Gedenkkultur
Die unerträgliche Wahrheit
Aus einer Gedenkstätte für die Opfer der Kranken-Ermordung durch die Nazis in Kloster Irsee wird wohl ein Kunstwerk entfernt, weil es nicht mehr der aktuellen Gedenkkultur entspricht
VON SABINE REITHMAIER | SZ
Der Anblick des Triptychons ist nicht leicht auszuhalten: ein sich verzweifelt aufbäumender Bub, der von zwei Frauen hochgezerrt wird. Wie eine Kreuzigungsszene mutet das dreiteilige Werk an, das eines der gequälten Kinder zeigt, die in der "Bayerischen Heilanstalt für Geisteskranke" in Irsee während der Nazizeit durch Spritzen ermordet wurden oder durch gezielt eingesetzte Magerkost verhungerten.
Beate Passows Werk hängt in der Prosektur dieser ehemaligen Anstalt. Vielleicht sollte man besser sagen, noch hängt es da - denn die Münchner Künstlerin ist davon überzeugt, dass ihr Werk entfernt werden soll. Ob ihre Annahme richtig ist, dazu wollte sich der Besitzer des Triptychons, der Bezirk Schwaben, nicht äußern. Jedenfalls nicht vor der Sitzung des zuständigen Werkausschusses, der an diesem Donnerstag tagt und über eine Neukonzeption der Gedenkstätte berät.
"Die Prosektur als solche bedarf einer Neukonzeption, um den heutigen Ansprüchen an eine produktive didaktische Gedenkstättenarbeit zu genügen", teilte die Pressestelle des Bezirks mit. Ein artiger Satz, fast so artig wie der Titel des Triptychons:"... möchte ich Sie noch höflich bitten, mir folgende Fragen zu beantworten". Passows Werk hängt seit 20 Jahren in dem kleinen Gebäude, das versteckt auf der Nordseite der ehemaligen Klosteranlage Irsee liegt. Nach der Säkularisation wurde es erst als "Kreis-Irrenanstalt", dann als Zweigstelle der Pflegeanstalt Kaufbeuren genutzt. In der Prosektur sezierten die Ärzte die Leichen der Patienten, um ihre Todesursache festzustellen, auch dann, wenn sie, wie in der Nazi-Zeit genau wussten, woran die Patienten gestorben waren. 1972 wurde die Irseer Abteilung für psychisch Kranke aufgelöst, wenige Jahre später in ein Bildungszentrum des Bezirks Schwaben umgestaltet. Seither hat sich viel verändert. Nur in der Prosektur, die Mitte der Neunzigerjahre in eine Gedenkstätte für die Opfer des sogenannten Euthanasie-Programms umgewandelt wurde, sieht es noch genauso aus wie damals, abgesehen von Passows Triptychon im Vorraum. Das Werk überfällt den Betrachter übrigens nicht unerwartet. Zugänglich ist die Prosektur nur für diejenigen, die sich zuvor den Schlüssel beim Hauspförtner holen.
Der Titel des Triptychons: "... möchte ich Sie noch höflich bitten, mir folgende Fragen zu beantworten". (Foto: Beate Passow, VG BildkunsT Bonn 2018)
Der dreiteilige Siebdruck ist ursprünglich auch nicht für diesen Ort entstanden. Michael von Cranach, langjähriger Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, dem es in erster Linie zu verdanken ist, dass die Geschichte der Kaufbeurer und Irseer Anstalt während der Nazizeit so präzis aufgearbeitet worden ist, hatte Beate Passow Originalaufnahmen übergeben und sie ermuntert, daraus ein Werk zu schaffen. Vom Ergebnis war Cranach sehr beeindruckt. Auch Rainer Jehl, damals Leiter des Bildungszentrums, faszinierte das 1996 in einer Ausstellung des Kunsthauses Kaufbeuren gezeigte Werk so, dass er es für die Prosektur erwarb.
Michael von Cranach, der auch am soeben erschienenen "Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde" mitgearbeitet hat, schätzt das Triptychon noch immer sehr. Aber manchmal frage er sich inzwischen, ob das Werk in der jetzt präsentierten Form noch der aktuellen Gedenkkultur gerecht werde, sagt er. Zum ersten Mal sei ihm das bewusst geworden, als vor fünf Jahren die Arbeitsgemeinschaft der Euthanasieforscher und Gedenkenstättenleiter in Irsee tagte und manche Kollegen es entwürdigend fanden, Täterbilder von den Opfern zu zeigen. Das Argument, es handle sich um Kunst, wollten sie nicht gelten lassen. Genauso wenig wie die Mitarbeiter aus Behinderteneinrichtungen, die Cranach während seiner Führungen durch die Prosektur darauf hinwiesen, es sei mit Artikel 5 der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar, Behinderte in derart diskriminierender Weise zu zeigen.
Als auch eine von Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Vorjahr initiierte Tagung, die sich mit der Frage der Namensnennung von Euthanasieopfern beschäftigte, zu dem Ergebnis kam, Namen und Daten der Opfer sollten zwar veröffentlicht werden, nicht aber diskriminierende Täterdarstellungen oder deren falsche Diagnosen, setzte das große Nachdenken ein. Seither machten sich die Bezirke Gedanken darüber, ob sie ihre Gedenkstättenkultur verbessern müssen, sagt Cranach. Er selbst würde Passows Bild nicht abhängen. "Ich habe den Vorschlag gemacht, in Irsee eine kleine Tagung mit Experten und Beate Passow zu veranstalten und darüber zu diskutieren, was man tun kann." Vielleicht reiche ein ergänzender Kommentar zur Geschichte der Gedenkkultur.
Passow, 1945 als Tochter eines Nationalsozialisten und einer polnischen Köchin geboren, beruhigt das im Moment nicht. Dass Bezirkstagspräsident Jürgen Reichert, bei dem sie sich am 14. August brieflich nach der Zukunft ihres Werks erkundigte, bis heute nicht reagiert hat, ärgert sie schon. Erst im Vorjahr für ihre konsequente künstlerische Haltung mit dem angesehenen Gabriele-Münter-Preis ausgezeichnet, arbeitet sie seit vielen Jahren gegen das kollektive Vergessen an. Ihre Kunst - von der Fotografie über Collage und Installation bis zur Aktion - ist immer politisch. Auch wenn sie nicht glaubt, dass sich mit Hilfe der Kunst etwas ändert, ist sie doch von deren emotionalen Potenzial überzeugt. Und auch davon, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist.
sueddeutsche zeitung
Die unerträgliche Wahrheit
Aus einer Gedenkstätte für die Opfer der Kranken-Ermordung durch die Nazis in Kloster Irsee wird wohl ein Kunstwerk entfernt, weil es nicht mehr der aktuellen Gedenkkultur entspricht
VON SABINE REITHMAIER | SZ
Der Anblick des Triptychons ist nicht leicht auszuhalten: ein sich verzweifelt aufbäumender Bub, der von zwei Frauen hochgezerrt wird. Wie eine Kreuzigungsszene mutet das dreiteilige Werk an, das eines der gequälten Kinder zeigt, die in der "Bayerischen Heilanstalt für Geisteskranke" in Irsee während der Nazizeit durch Spritzen ermordet wurden oder durch gezielt eingesetzte Magerkost verhungerten.
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Der rechte Flügel des Triptychons: Das gepeinigte Kind wirkt in seiner Haltung wie der gekreuzigte Christus. Foto: Beate Passow, VG BildkunsT Bonn 2018 |
"Die Prosektur als solche bedarf einer Neukonzeption, um den heutigen Ansprüchen an eine produktive didaktische Gedenkstättenarbeit zu genügen", teilte die Pressestelle des Bezirks mit. Ein artiger Satz, fast so artig wie der Titel des Triptychons:"... möchte ich Sie noch höflich bitten, mir folgende Fragen zu beantworten". Passows Werk hängt seit 20 Jahren in dem kleinen Gebäude, das versteckt auf der Nordseite der ehemaligen Klosteranlage Irsee liegt. Nach der Säkularisation wurde es erst als "Kreis-Irrenanstalt", dann als Zweigstelle der Pflegeanstalt Kaufbeuren genutzt. In der Prosektur sezierten die Ärzte die Leichen der Patienten, um ihre Todesursache festzustellen, auch dann, wenn sie, wie in der Nazi-Zeit genau wussten, woran die Patienten gestorben waren. 1972 wurde die Irseer Abteilung für psychisch Kranke aufgelöst, wenige Jahre später in ein Bildungszentrum des Bezirks Schwaben umgestaltet. Seither hat sich viel verändert. Nur in der Prosektur, die Mitte der Neunzigerjahre in eine Gedenkstätte für die Opfer des sogenannten Euthanasie-Programms umgewandelt wurde, sieht es noch genauso aus wie damals, abgesehen von Passows Triptychon im Vorraum. Das Werk überfällt den Betrachter übrigens nicht unerwartet. Zugänglich ist die Prosektur nur für diejenigen, die sich zuvor den Schlüssel beim Hauspförtner holen.
Der Titel des Triptychons: "... möchte ich Sie noch höflich bitten, mir folgende Fragen zu beantworten". (Foto: Beate Passow, VG BildkunsT Bonn 2018)
Der dreiteilige Siebdruck ist ursprünglich auch nicht für diesen Ort entstanden. Michael von Cranach, langjähriger Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren, dem es in erster Linie zu verdanken ist, dass die Geschichte der Kaufbeurer und Irseer Anstalt während der Nazizeit so präzis aufgearbeitet worden ist, hatte Beate Passow Originalaufnahmen übergeben und sie ermuntert, daraus ein Werk zu schaffen. Vom Ergebnis war Cranach sehr beeindruckt. Auch Rainer Jehl, damals Leiter des Bildungszentrums, faszinierte das 1996 in einer Ausstellung des Kunsthauses Kaufbeuren gezeigte Werk so, dass er es für die Prosektur erwarb.
Michael von Cranach, der auch am soeben erschienenen "Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde" mitgearbeitet hat, schätzt das Triptychon noch immer sehr. Aber manchmal frage er sich inzwischen, ob das Werk in der jetzt präsentierten Form noch der aktuellen Gedenkkultur gerecht werde, sagt er. Zum ersten Mal sei ihm das bewusst geworden, als vor fünf Jahren die Arbeitsgemeinschaft der Euthanasieforscher und Gedenkenstättenleiter in Irsee tagte und manche Kollegen es entwürdigend fanden, Täterbilder von den Opfern zu zeigen. Das Argument, es handle sich um Kunst, wollten sie nicht gelten lassen. Genauso wenig wie die Mitarbeiter aus Behinderteneinrichtungen, die Cranach während seiner Führungen durch die Prosektur darauf hinwiesen, es sei mit Artikel 5 der UN-Behindertenrechtskonvention nicht vereinbar, Behinderte in derart diskriminierender Weise zu zeigen.
Als auch eine von Kulturstaatsministerin Monika Grütters im Vorjahr initiierte Tagung, die sich mit der Frage der Namensnennung von Euthanasieopfern beschäftigte, zu dem Ergebnis kam, Namen und Daten der Opfer sollten zwar veröffentlicht werden, nicht aber diskriminierende Täterdarstellungen oder deren falsche Diagnosen, setzte das große Nachdenken ein. Seither machten sich die Bezirke Gedanken darüber, ob sie ihre Gedenkstättenkultur verbessern müssen, sagt Cranach. Er selbst würde Passows Bild nicht abhängen. "Ich habe den Vorschlag gemacht, in Irsee eine kleine Tagung mit Experten und Beate Passow zu veranstalten und darüber zu diskutieren, was man tun kann." Vielleicht reiche ein ergänzender Kommentar zur Geschichte der Gedenkkultur.
Passow, 1945 als Tochter eines Nationalsozialisten und einer polnischen Köchin geboren, beruhigt das im Moment nicht. Dass Bezirkstagspräsident Jürgen Reichert, bei dem sie sich am 14. August brieflich nach der Zukunft ihres Werks erkundigte, bis heute nicht reagiert hat, ärgert sie schon. Erst im Vorjahr für ihre konsequente künstlerische Haltung mit dem angesehenen Gabriele-Münter-Preis ausgezeichnet, arbeitet sie seit vielen Jahren gegen das kollektive Vergessen an. Ihre Kunst - von der Fotografie über Collage und Installation bis zur Aktion - ist immer politisch. Auch wenn sie nicht glaubt, dass sich mit Hilfe der Kunst etwas ändert, ist sie doch von deren emotionalen Potenzial überzeugt. Und auch davon, dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar ist.
sueddeutsche zeitung