EHRFURCHT
Das erhabene Gefühl
Jeder Menschen kennt sie, dennoch ist sie ein schwindendes Gefühl: Ehrfurcht. Dabei macht uns die Fähigkeit zum Staunen, Wundern und Gänsehaut erleben zu besseren Menschen, sagen Forscher. Aber wie gelingt das?
Von Clara Ott | WELT.de
Er schaut sich verwundert zu beiden Seiten um, staunender Blick, offener Mund, die Brauen hochgezogen. Links von ihm wird gelacht, rechts traurig geschnieft. „Wow“ ist einer der fünf Emojis, die Facebook seinen Nutzern neben dem „Like“-Button als Reaktionsoption anbietet. Für den Psychologen Dacher Keltner ist das staunende Emoji das wichtigste der fünf. Als Facebook vor zwei Jahren über die neuen Buttons entschied, war Keltner mit dabei. Der Professor, der an der Universität von Berkeley in Kalifornien die menschlichen Emotionen erforscht, hätte am liebsten für zwanzig Gefühlssymbole plädiert, aber für so viele war kein Platz. Keltner warb für das Wow.
Wow? Das Emoji kann für kribbelnde Gänsehautmomente stehen oder für demütiges Innehalten. Keltner nennt den Gefühlszustand, den es beschreiben soll schlicht awe – zu Deutsch Ehrfurcht. In Zeiten, in denen alle Welt nach Sinn, Glück und Selbstverwirklichung strebe, sei das Empfinden von Ehrfurcht geradezu eine Superkraft, davon ist der 56-Jährige überzeugt. Die Emotion bestärke den Menschen in seinem Dasein als soziales Wesen, schrieb Keltner 2016. Mehr Ehrfurcht zu spüren sei der schnellste und einfachste Weg, ein besserer Mensch zu werden.
Es ist ein Satz, der im ersten Moment an einen esoterischen Glückscoach denken lässt. Aber Dacher Keltner erforscht die Sache seit mehr als 30 Jahren, seit 15 an dem von ihm gegründeten Zentrum namens Greater Good Science Center in Berkeley. Er will verstehen, woher dieses Gefühl kommt, das er für überlebenswichtig in der Evolution hält.
Um unter schwierigen Umständen überleben zu können, in sehr trockenen Regionen etwa, habe der Mensch mit einem starken Gefühl auf Symbole des Lebens wie Wasser und Nahrung reagieren müssen, glauben Forscher. Vor drei Jahren konnte Keltner in einer Studie auch nachweisen, dass der Körper in ehrfurchtsvollen Momenten nicht nur Glückshormone wie Serotonin und Dopamin ausschüttet, sondern auch mehr Zytokine produziert. Es handelt sich um Proteine, die das Zellwachstum regulieren und entzündungshemmend wirken können. Das könnte vielen Krankheiten vorbeugen. Aber Keltner glaubt, dass Ehrfurcht, auch ohne diesen Effekt im Körper auszulösen, das Leben vieler Menschen verbessern kann. Sie könne zu einem Werkzeug eingesetzt werden, um seinem Leben einen tieferen Sinn zu verleihen und zu sich selbst zu finden. Diese Bedürfnisse treiben viele Menschen um.
Bei der Erforschung der Ehrfurcht tat sich Keltner zunächst mit dem Psychologen Jonathan Haidt von der Universität von Virginia zusammen. Sie analysierten die Denkstrukturen von Menschen, die Ehrfurcht empfinden. Jeder Mensch trägt das Potenzial für diesen Gefühlszustand in sich, fanden die Forscher heraus. Sie schlüsselten Auslöser für Ehrfurcht in sechs Kategorien auf: atemberaubende Schönheit (etwa der Natur oder von Kunstwerken), überwältigende Komplexität (der Entstehung des Lebens etwa oder eines winzigen, hoch komplizierten Uhrwerks), außergewöhnliche Fähigkeiten (von Sportlern, Künstlern), starke Kräfte (die Fliehkraft, die Gewalt eines Unwetters), endliche und unendliche Wiederholungen (im Zyklus der Evolution, im Kosmos), unermessliche Formen der Weite oder Breite (Zeiträume, Universum, Periodensystem).
Auslöser, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Und doch vermag es ein Uhrwerk ebenso wie ein perfekter Freistoß eines Fußballers bei der Weltmeisterschaft, diesen Zustand im Menschen auszulösen. Den Moment der Ehrfurcht, in dem der Mensch sich als Individuum klein oder unbedeutend fühlt, sich selbst nicht mehr so wichtig nimmt – und sich zugleich als zutiefst mit der Welt verbunden empfindet. Man ist winzig und man ist Teil von etwas Großem, Undurchdringlichem, schier Unbegreiflichem. Man ist.
Doch nicht umsonst enthält der deutsche Begriff Ehrfurcht auch das Wort Furcht. Beide Gefühle sind nicht nur über die Sprache verbunden, sie rufen im Körper auch ähnliche Reaktionen hervor. Die Pupillen weiten sich, die Seh- und Hörnerven werden empfindsamer, die Muskeln spannen sich an, der Puls geht in die Höhe. Aber im Moment der Ehrfurcht sinkt er auch wieder. Blickt man vom Strand aus auf einen tosenden Ozean, wird man ehrfürchtig vor der Naturgewalt sein – von der zugleich keinerlei existenzielle Bedrohung ausgeht. Anders fällt die Gefühlslage aus, befindet man sich bei gleich starkem Wellengang auf einem Boot.
Lange bevor der Psychologe Keltner die Ehrfurchtsauslöser in Kategorien aufteilte, haben die Dichter und Philosophen das Gefühl ergründet. In ehrfurchtsvollen Augenblicken sei der Mensch „frei“ und behalte seine „Ehre“, erklärte Johann Wolfgang von Goethe. Immanuel Kant schrieb vom erhabenen Gefühl, das den Geist anrühre. Im Gegensatz zur Schönheit, die nur gefallen wolle, versetzten ehrfürchtige Situationen den Geist in eine gehobene Gefühlslage, schrieb er. Die eigene Wichtigkeit wird vernichtet, gleichzeitig erfahre man seelische Größe.
Keltner kann Kant da nur recht geben. Vor drei Jahren zeigten er und sein Team in einer Studie, dass die Empfindung der Ehrfurcht Menschen wirklich zu seelisch größeren Wesen machen kann. Zu sozialeren Wesen, genauer gesagt. Unter der Leitung von Keltners Kollegen Paul Piff liefen mehrere Experimente mit 1519 Probanden. Die Teilnehmer waren so ausgewählt, dass sie den Bevölkerungsdurchschnitt repräsentierten. In einem Experiment sollten sie entweder eine Minute lang das Bild eines Waldes aus tasmanischen Eukalyptusbäumen betrachten, die ungewöhnlich hoch gewachsen waren. Oder ein gewöhnliches Backsteinhochhaus. Danach ließ der Studienleiter, scheinbar aus Versehen, einen Karton mit Stiften fallen. Diejenigen, die auf die Bäume geschaut hatten, sammelten ohne jede Aufforderung mehr Stifte auf als die anderen. Ein banales Ergebnis? Für die Forscher war es der Nachweis, dass das andächtige Betrachten von beeindruckender Natur Menschen tatsächlich hilfsbereiter und mitfühlender machen kann.
Ein anderes Experiment leitete die Emotionsforscherin Michelle Shiota. Ihre Probanden sollten auf einem Blatt Papier den einfachen Satz „Ich bin ...“ vervollständigen. Dabei standen alle Teilnehmer im Naturkundemuseum von Berkeley: die einen mit Blick auf das Skelett eines Tyrannosaurus Rex, die anderen mit dem Dinosaurier im Rücken und dem Blick in die Eingangshalle. Das Ergebnis: Probanden, die auf den T. Rex geschaut hatten, erklärten sich in ihren Sätzen als Teil einer sozialen Gruppe oder gar als Teil der Spezies Mensch. Probanden ohne das gewaltige Saurierskelett vor Augen betonten in ihren Sätzen ihre Individualität oder eigene Fähigkeiten. Man könnte das Ergebnis auch anders deuten und schlussfolgern: Vor dem Saurier verliert der Mensch sich selbst und fühlt sich klein. Das könne passieren, sagt Anton Bucher. Ehrfurcht könne den Menschen durchaus deprimieren, sogar kränken, weil er mit etwas konfrontiert wird, das größer oder bedeutsamer ist, als er selbst.
Aber dass sie eine mögliche Kränkung beinhalten könne, spreche nicht gegen die Ehrfurcht. Ganz im Gegenteil. Auch dadurch könne man eine „Öffnung für das Dasein gewinnen“, sagt Bucher. Der Pädagoge aus der Schweiz hat an der Universität Salzburg Glücks- und Ehrfurchtsstudien durchgeführt und vor zwei Jahren ein Buch über die „Ehrfurcht – Psychologie einer Stärke“ veröffentlicht. „Ehrfurcht ist ein großes und wunderbares Geschenk“, sagt Bucher.
Früher habe der Mensch weitaus mehr von diesem Geschenk angenommen als heute. Bucher hat auch die Geschichte des Gefühls untersucht. Über Jahrhunderte schaute der Mensch voller Ehrfurcht auf die Spitzen der Hochgebirge. Mit der Erstbesteigung des 1912 Meter hohen Mont Ventoux in der französischen Provence durch den italienischen Humanisten Petrarca im Jahr 1336 habe sich das Gefühl verändert. Die Berge wurden bezwingbar. Im antiken Griechenland galten Gewitter als Zornesentladungen der Götter. Im Zeitalter der Wissenschaft erkannte man, dass es sich um elektrostatische Entladungen im Himmel handelte. Der deutsche Soziologe Max Weber warnte 1917 vor einer „Entzauberung der Welt“ durch den technischen Fortschritt.
Astronauten erleben Erleuchtung im Weltall
Sind Wissenschaft und Fortschritt wirklich Gifte für die Ehrfurcht? Anton Bucher sieht das ambivalent. Zwar könne der Zauber verfliegen, wenn komplexe Prozesse wie die Entstehung der Menschheit in der Evolutionstheorie versachlicht werden. Doch wissenschaftliche Erkenntnisse könnten auch neues Staunen hervorrufen und wieder Raum für Ehrfurcht zu schaffen. „Je mehr man über die Wunder des Lebens weiß, von den kosmischen Tiefen des Universums, desto tiefer können die Emotionen der Ehrfurcht werden.“ Ihm selbst sei das vor einigen Jahren passiert, als er etwas gelesen habe, was ihm neu war: Wenn die Erde nur fünf Prozent weiter von der Sonne entfernt wäre, dann wäre sie mit Eis bedeckt. Läge sie fünf Prozent näher an der Sonne, wären ihre Ozeane längst verdampft. Diese Erkenntnisse beeindruckten ihn immer wieder aufs Neue, sagt Bucher.
Seinem Glauben widerspricht das nicht. Anton Bucher ist auch römisch-katholischer Theologe. Er hat sich auch mit der Ehrfurcht befasst, die Institutionen wie die Kirche in ihren Mitgliedern erzeugen wollen. Ehrfurcht könne man nicht verordnen, sagt er. „Kein Mensch kann sich zwingen, ehrfürchtig zu sein.“ Im Gegensatz zu Emotionen wie Trauer oder Freude, die Menschen auch durch bloße Vorstellungskraft in sich erzeugen können, könne Ehrfurcht nur in der Konfrontation mit etwas Äußerem entstehen. Man muss etwas sehen oder hören, um sie zu spüren. Aber jeder Mensch, dessen Wahrnehmungsfähigkeit nicht durch ein psychisches Trauma eingeschränkt ist, sei dazu in der Lage.
Wie sehr Ehrfurcht dann festgefahrene Denkstrukturen durchbrechen kann, wurde schon 1987 beschrieben. Forscher der Universität von Pennsylvania berichteten über den „Overview-Effekt“, den der Anblick der Erde aus dem Weltall auf Astronauten hat. Viele berichteten nach ihrer Rückkehr auf die Erde von Momenten tiefer Ehrfurcht im All – manche der eigentlich wissenschaftlich-rational denkenden Raumfahrer sprachen sogar von Erleuchtungen.
Die Erde aus dem All sehen, tja, das ist für Normalsterbliche leider nicht möglich. Dem Dichter Adalbert Stifter genügte der Anblick eines Sandkorns, um kurz in tiefe Ehrfurcht zu versinken.
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phänomenal - göttlich - waaaaahhhhhnnnnsinn - da finde ich keine worte - unerklärlich - uups -
sooo selten ist das gar nicht: angerührt zu sein - ehrfurcht zu empfinden - und meistens schwingt da immer der verdacht mit, das sei jetzt nicht von dieser welt -
sooo selten ist das gar nicht: angerührt zu sein - ehrfurcht zu empfinden - und meistens schwingt da immer der verdacht mit, das sei jetzt nicht von dieser welt -
du sollst gott fürchten - und lieben ... - hat luther in seinen katechismus notiert, in den erläuterungen zu den 10 geboten - und da ist sie dann wieder, diese eigenartige "furcht" im deutschen: aber das hat(te) etwas mit "respekt einflößen" zu tun und achtung vor autorität - und "unterwürfigkeit", respektvollem schweigen und innehalten:
das gibt es auch in ganz schnöden einfachen weltlichen begegnungen: neulich saß ich in einer bäckerei beim kaffee - und da kam der frühere nationaltorhüter und heutige fernsehmoderator ulli stein in den laden und kaufte gebäck - und es wurde mit einem schlag still im laden - und mein begleiter raunte mir wichtigtuerisch und schon ein wenig "ehrfurchtsvoll" zu: "das ist ulli stein" - und als der wieder raus war, hob das gemurmel der kaffeegäste wieder an - und von allen tischen wisperte es: ulli stein - das war der stein - kennste doch ... - da war wohl weniger "ehrfurcht" und mehr "respekt" im spiel, aber das eine beinhaltet ja das andere - und das großtuerische "siehste - ich kenne mich aus" - das war einfach leibhaftige "prominenz" (lat.: das "hervorragende" - und ulli stein ist ja 1,86 m groß) ...
- dieser "heilige schauer" dagegen - dieses: mich schaudert - (vor ehr-furcht) ... körperlich versehen mit der gleichen "gänsehaut" und dem "haare zu berge stehen" wie beim schrecken, wie bei der "furcht"... - und manche flippen dann einfach aus - andere geraten dann in trance - (und sind wenigstens im film meist nur mit backpfeifen wieder wachzubekommen) - andere schweigen still - kehren in sich - belegen sich vielleicht mit einem längeren schweigegelübde - oder gehen gar in einen schweigeorden: je nachdem ...
das gibt es auch in ganz schnöden einfachen weltlichen begegnungen: neulich saß ich in einer bäckerei beim kaffee - und da kam der frühere nationaltorhüter und heutige fernsehmoderator ulli stein in den laden und kaufte gebäck - und es wurde mit einem schlag still im laden - und mein begleiter raunte mir wichtigtuerisch und schon ein wenig "ehrfurchtsvoll" zu: "das ist ulli stein" - und als der wieder raus war, hob das gemurmel der kaffeegäste wieder an - und von allen tischen wisperte es: ulli stein - das war der stein - kennste doch ... - da war wohl weniger "ehrfurcht" und mehr "respekt" im spiel, aber das eine beinhaltet ja das andere - und das großtuerische "siehste - ich kenne mich aus" - das war einfach leibhaftige "prominenz" (lat.: das "hervorragende" - und ulli stein ist ja 1,86 m groß) ...
- dieser "heilige schauer" dagegen - dieses: mich schaudert - (vor ehr-furcht) ... körperlich versehen mit der gleichen "gänsehaut" und dem "haare zu berge stehen" wie beim schrecken, wie bei der "furcht"... - und manche flippen dann einfach aus - andere geraten dann in trance - (und sind wenigstens im film meist nur mit backpfeifen wieder wachzubekommen) - andere schweigen still - kehren in sich - belegen sich vielleicht mit einem längeren schweigegelübde - oder gehen gar in einen schweigeorden: je nachdem ...
wichtig ist, dass wir uns für solche gefühlsregungen sensibilisieren und sensibilisiert bleiben - das wir empathisch sind für ehrfurchts-momente - und uns anrühren lassen ... - ein jeder nach seiner "fassong" - S!: reden ist silber - schweigen ist manchmal gold ...