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störmeldungen aus dem musterland der nazi-aufarbeitung

HOLOCAUST-GEDENKTAG - WIE ERINNERN SICH DIE NACHGEBORENEN GENERATIONEN?

Das unheimliche Wissen

Soldaten der Roten Armee befreiten am 27. Januar 1945 das Vernichtungslager Auschwitz. Der Tag gilt dem Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus. Wie vermittelbar ist das Wissen darüber heute?

Von Caroline Fetscher | Tagesspiegel

Wir Kinder wurden hellhörig, wenn Erwachsene in den sechziger Jahren seltsame Wörter sagten, die wie Andeutungen klangen. Vermutlich kam das häufiger vor, als Zeitungen und Radiosender von den Auschwitz-Prozessen berichteten, die 1963 am Landgericht in Frankfurt am Main begonnen hatten, initiiert von Hessens Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Keiner entkam diesen Nachrichten. Mitten im habituellen Beschweigen wurden die Deutschen heimgesucht von der Erinnerung an die unmittelbare Vergangenheit, der Wiederaufbau und Wirtschaftswunder wirksam die Tür verriegelt hatten. Schuld und Beklommenheit schwangen mit in den seltsamen Wörtern der Erwachsenen. Eins davon war „die Zone“. Verwirrend stand das für ein irgendwie verbotenes Gebiet, das von unserem Land abgeschnitten worden war, weil es „den Krieg“ gegeben hatte. In dem Krieg war Unaussprechliches geschehen, und dafür war das Abspalten „der Zone“ offenbar die Strafe.

Nach und nach kamen weitere geheimnishafte Begriffe dazu, wie „die Juden“, „die Nazis“ oder „der Transport“. Von einer Nachbarin sagten Leute, sie hätte „den Transport überlebt“, was „schier unglaublich“ war. Das sagten sie so gehemmt wie bewundernd. Über einen Mann am Ende der Straße hieß es hinter vorgehaltener Hand: „Der war ein dicker Nazi“. Ein Lehrer ging an Krücken. Wenn er in Wut geriet, drohte er der Klasse mit der rechten Krücke. „Der war eben im Krieg“, beschwichtigten uns jüngere Lehrer. Verstohlen deutete ein Bekannter der Eltern auf eine Dame, die in der Grünanlage ihren Hund ausführte: „Die hat damals welche verraten und ins KZ gebracht.“ Der stärkste der schwer lastenden Begriffe war „das KZ“. Das war ein anderes Wort für Grauen, soweit hatten wir verstanden. Aber die Frau dort lief frei herum. Warum?

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Wie war das damals eigentlich? Jugendliche besuchen die Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, ein ehemaliges Konzentrationslager. Foto: imago/Jürgen Ritter


Was sich in der Vergangenheit ereignet hatte, erhielt später festere Umrisse und dichteren Gehalt. Je mehr die Nachkriegskinder vom Nationalsozialismus erfuhren, desto unheimlicher konnten ihnen die Erwachsenen werden, dieselben Menschen, auf die sie angewiesen waren, zu denen sie Vertrauen brauchten. Spätestens am Ende der Adoleszenz war den meisten von uns klar: Auf der Generation der Eltern und Großeltern lastet die Beteiligung an einem maßlosen Verbrechen - oder jedenfalls das Wissen darüber. Millionen Kinder, Frauen, Männer, die genauso wie wir und genau da gelebt hatten, wo wir heute lebten, waren grundlos diffamiert und systematisch ermordet worden, da sie zu „den Juden“ gehörten. Oder zu denen, die das Ermorden der Juden nicht dulden wollten.

Viele Nachkriegskinder lasen das Tagebuch von Anne Frank, Aufzeichnungen eines jüdischen Mädchens, das in Amsterdam im Versteck lebte, ehe es ins Todeslager deportiert wurde. Wir lasen mit Entsetzen, weinend und zornig. Wie war derart monströses Unrecht möglich geworden? Gespräche darüber mit den Eltern, den Älteren waren rar. Wir wuchsen unter Zeitzeugen auf, als bei diesen der zeitverzerrende Begriff „Schlussstrich“ Karriere machte.

Laut geworden war die Forderung schon im Gründungsjahr der Republik, als die Wahlwerbung der Freien Demokraten, die damals sehr nationalistisch gesinnt waren, „Schlussstrich drunter!“ verlangte, und das Abschaffen von „Entnazifizierung, Entrechtung, Entmündigung“. Bei Umfragen ab Ende 1945 bis Ende 1946 bejahte rund die Hälfte der Befragten die Aussage, der Nationalsozialismus sei „eine gute Idee“ gewesen, die nur „schlecht ausgeführt“ wurde.

Es folgte, in mehreren Schüben, die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit: Prozesse gegen Kriegsverbrecher, Theaterstücke wie „Die Ermittlung“ von Peter Weiss, Kino- und Fernsehfilme zur Shoah, die Aufnahme des Stoffs in die Curricula der Schulen, das Einrichten von Gedenkstätten, das Verlegen von Stolpersteinen zur Erinnerung an individuelle Opfer - und immer wieder öffentliche Skandale, etwa Martin Walsers Aufbegehren wider „Auschwitz“ als „Moralkeule“. Walser führte,
zwanzig Jahre vor dem „Vogelschiss“ der AfD, exemplarisch vor, dass Wissen (über welches er verfügte) noch lange nicht Bewusstsein bedeutet (über welches er nicht verfügte).

Indes sinkt die Zahl der Zeitzeugen stetig. Jugendliche begegnen ihnen inzwischen nur selten. Einige Schulen laden die letzten, betagten Überlebenden ein, und Lehrerinnen und Lehrer haben Mühe, die in die Ferne rückende Vergangenheit zu vermitteln, während parallel alte und neue antisemitische, antiisraelische Stereotypen Raum greifen, gerade auch bei muslimischen Kindern und Jugendlichen. „Nicht schon wieder Juden und Nazis!“ meutern Schüler häufig. Sind das Echos der Walserianer oder Palästinastreiter aus ihrem Zuhause? Erzeugt allzu drängendes oder zu flaches Vermitteln den Überdruss? Keine Umfrage könnte darauf eine Antwort liefern. „Zeigen Sie uns mal Ihr Tattoo?“, fragten Kinder einer ostdeutschen Schulklasse vor einer Handvoll Jahren einen KZ-Überlebenden, der darüber milde lächelte, während der Lehrer in Scham versank. Eine Deutschlehrerin im Rhein-Main-Gebiet erlebt, dass Lektüre wie „Damals war es Friedrich“ von 1961 oder „Adressat unbekannt“ von 1983 immer noch packen kann, „allerdings zieht das nicht bei allen.“ Anne Franks Tagebuch erweise sich, berichtet sie, meist als „zu zähe Lektüre“. In die Lage der Teenagerin, die sich vor uniformierten Mördern in Sicherheit bringen musste, können oder wollen sich nur noch wenige versetzen.

Erzählte Schicksale von Tierwaisen berührten sie stärker als Anne Franks Briefe an die imaginäre Freundin Kitty, bekennt eine vierzehnjährige Berlinerin. Beim Besuch einer Ausstellung zur Entrechtung der Juden erfuhren Zehntklässler, dass jüdische Familien ihre Haustiere, ihre Hunde abgeben mussten. „Die armen Hunde! Wohin kamen die dann?“ erkundigte sich die Gruppe bei der konsternierten Museumsführerin. „Juden zahlen keine Steuern, und denen gehört Aldi, Lidl, Mediamarkt - alles!“ Solchen Vorstellungen begegnet der Psychologe Ahmad Mansour regelmäßig in seiner Arbeit gegen den Antisemitismus muslimischer Jugendlicher in Deutschland.

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung wollten 2014 etwa acht von zehn Deutschen die Geschichte der Judenverfolgung „hinter sich lassen“; gerade die Jüngeren stachen hier besonders hervor. Ein paar Wochen alt ist der „Eurobarometer 484“, eine Umfrage der Europäischen Kommission zur Wahrnehmung des Antisemitismus in jenen Mitgliedsstaaten, in denen 96 Prozent der jüdischen EU-Bevölkerung leben. Danach halten fünfzig Prozent Antisemitismus für ein Problem in ihrem Land, eines, das in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat.

Weit, weit weg wirkt der Holocaust auf viele heutige Jugendliche. Früher waren Kinder und Jugendliche fasziniert von den Verliesen und Folterkammern in Ritterburgen am Rhein. Jetzt werden vereinzelt Tendenzen deutlich, den Zivilisationsbruch der Shoah einzureihen in die Serien der Horrorvideos und Gruselthriller, die junge Leute im Internet konsumieren. Einige, vor allem Jungen, sind erpicht auf einen Ausflug zum „total echten“, „voll krassen“ Ort Auschwitz, bar jeder politischen oder empathischen Absicht. Und Entsetzen allein wird dagegen gar nichts ausrichten.

Freilich gibt es auch engagierte Jugendliche, die etwa Biographien von NS-Opfern nachspüren, wie die Schülerinnen und Schüler des Leistungskurses Geschichte am Albert-Einstein-Gymnasium. Mit der sozialistischen Falken-Jugend sorgten sie dafür, dass im November 2018 in der Britzer Hufeisensiedlung in Berlin ein Stolperstein für den jüdischen Sozialdemokraten und Autor Bruno Altmann gesetzt wurde. Die Gedenkfeier für ihn hatten die Jugendlichen selber gestaltet.

Monika Grütters, die amtierende Kulturstaatsministerin, will jetzt das Geschichtsbewusstsein der jungen Generationen stärken. Für ihr Programm „Jugend erinnert“ haben Historiker und Bildungsexperten praxisnahe Konzepte entwickelt, die Begegnungen und Besuche in Gedenkstätten fördern sollen. Vorgestellt wird das Programm am 29. Januar am Ort der Information des Berliner Mahnmals für die ermordeten Juden Europas.

So notwendig das Erinnern an Massenmord, Menschheitsverbrechen und die Schuld der Tätergesellschaft ist, so wichtig scheint das Auffalten einer lebendigen Sphäre jüdischen Lebens. Rund siebzig Prozent der EU-Bürger meinen derzeit laut der Eurobarometer-Studie, dass die Mehrheit in ihrem Land mangelhaft informiert ist über jüdische Geschichte und Kultur - sprechender Beleg für Forderungen wie die von Nicola Galliner, Leiterin des Jüdischen Filmfestivals Berlin und Brandenburg. Historische wie aktuelle Vermittlung müsse endlich über „tote Juden“ hinausreichen, sagt Galliner, und erwähnt den verblüffenden Effekt etwa von Eyal Halfons Filmkomödie „90 Minuten - bei Abpfiff Frieden“, worin ein Fußballmatch zwischen Israelis und Palästinensern zum Mikrokosmos des Friedensprozesses im Nahen Osten wird. Jugend kann de facto nicht „erinnern“, was sie nicht erlebt hat. Jugendliche können Wissen erlangen - und nur durch Empathie wird Wissen zu Bewusstsein.

TAGESSPIEGEL, Sonntag 27.01.2019 | KULTUR S. 25

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tja - so isses - es ist genauso - und schlimmer - wie es ganz ungeschminkt in diesem artikel dargestellt wird. und es ist ein konglomerat aus verschiedenen be- und ge-wusstheitsstufen, die da alle aufeinandertreffen: das ausland bewundert deutschland ja für seine emsige gedenk- und erinnerungskultur und für die übernahme von "verantwortlichkeit" für das geschehen in nazi-deutschland und im weltkrieg. aber wir "betroffenen" sind damit längst nicht zufrieden - und wollen tiefergehende auseinandersetzungen mit jener zeit und der eigenen betroffenheit.

die authentischen zeitzeugen werden immer weniger - und haben immer weniger lust vor jungen, oft kaum vorbereiteten "satten" und mit den gedanken ganz woanders spazierengehenden 13-18jährigen schülern immer wieder ihr "holocaust"-programm mit der obligatorischen powerpoint-präsentation abzuspulen - oder die wenigen un- oder de-motivierten pflichtfragen der schülerschaft zu beantworten - denn dazu kommt noch: oftmals steht in unserem digitalen zeitalter, in dem jeder schüler sein smartphone in der tasche hat - und extra "smartphone-regeln" für die benutzung im unterricht vereinbart werden müssen - ein laptop oder eine vernünftige internet-verbindung oder ein router und ein beamer gar nicht zur verfügung - für eine entsprechende präsentation durch den/die 70- bis über 80-jährigen "alten weißen mann*/frau", den/die "referenten*in" - die auch nur in mühevoller kleinarbeit ihre datenträger-sticks aufgeladen haben mit dem entsprechenden dokumentationsmaterial, denn die offiziellen unterrichtsmaterialien geben da ja wenig her oder dürfen nicht verwandt werden.

und die tücke steckt im detail - also auch wenn das equipment irgendwo in der schule aufzutreiben wäre - weiß oft weder die lehrkraft noch jemand von den schülern, wie denn die einzelteile anzuschließen sind - und wie etwas mit welchen dingen kompatibel ist usw. usf. und der it-spezialisierte hausmeister oder der "fachlehrer" ist im moment nicht aufzufinden...
und da kommt dann eben frust auf - und der wird nicht auf das unvermögen in der ausführung festgemacht, sondern mündet dann eben nach ein paar so desolat erlebten "versuchen" in diesen resignativen satz „nicht schon wieder juden und nazis!“ - aber die haben mit dem frust gar nichts zu tun...

aber es ist auch kein echtes "interesse" an der sache da - und dafür lässt sich ja auch nicht mit den üblichen mitteln "motivieren". das thema "holocaust"& co. ist (gefühlt) bei den meisten abgehakt und teilweise ausgelutscht: dazu hat man keinen "bock" - das wäre vielleicht was für freiwillige arbeitskreise und leistungskurse oder vertiefungs-zirkel ...

denn "meinungs- und wertneutral" lässt sich ein solches thema in einer schule - wie sonst vielleicht gefordert - nicht verhandeln - ich wenigstens bin bei meinen vorträgen zu diesen themen einseitig und festgelegt - ganz klar ...

ich habe ja ca. 8 jahre immer mal wieder schülern das leidensporträt meiner tante erna kronshage näherbringen wollen, die als nazi-"euthanasie"-opfer in einer tötungsanstalt ermordet wurde.

aber obwohl der historiker götz aly errechnet hat, dass jeder achte derzeitige erwachsene zeitgenosse, dessen vorfahren zwischen 1939 und 1945 in deutschland gewohnt haben, in irgendeiner weise in der familie und in der verwandtschaft und durch verheiratung und cousin und großcousine - und und und - mit dem thema "euthanasie" konfrontiert sein müsste -  aber bei ca. 300.000 vermeintlichen gewaltopfern ist das aufarbeitungs-geschehen in den familien durch gespräche und erforschungen und erkundungen kaum gegeben - und sehr sehr mau ... - das thema wird ausgeklammert und abgespalten und verdrängt, was innerpsychisch ja ungesund ist ...

ich schätze, dass vielleicht 300 - 400 euthanasie-opfer-biografien derzeit bundesweit publiziert und bekannt sind, also vielleicht gerade mal etwas über 1 promille ... 

hinzu kommt inzwischen eine junge garde von lehrkräften, die wenig interesse daran hat, selbst zu forschen oder wenn schon, den eigenen "hobby"-enthusiasmus zu übertragen auf die schüler, was aber auch mit den permanentkritischen elternhäusern zu tun hat, die "besonderheiten" auch je nach politischen habitus oft sehr kritisch gegenüberstehen ...

die schüler sollen etwas lernen "für's leben und für den job" - und das wird häppchenweise je nach lehrplan hübsch aufbereitet dann vorgetragen und durchgekaut - und da ist die zeit knapp genug, als dass man sich dann noch initiativ auf solche extra-unterrichtseinheiten selbst vorbereiten will, kann oder soll ...

also auch die lehrer und die eltern meinen inzwischen „nicht schon wieder juden und nazis!“ - und ich füge eben mein spezialthema, das "randthema" euthanasie-mord-opfer, da mal hinzu ... 

und die obligatorischen fahrten zu kz's und vernichtungsanstalten wird dann mehr als "event" und als "klassen-ausflugsfahrt" mit allem drum & dran organisiert - und zuschüsse gibt es da ja auch, warum soll man die nicht abrufen - und gleichzeitig kann man den "reichstag" besuchen und das "stelenfeld" und dem befreundeten paten-bundestagsmitglied aus der stadt einen besuch abstatten mit einer sequenz "politischer bildung", vorgetragen da von einem assistenten der entsprechenden besucher-abteilung - 

ja - das ist einsatz ...

auch im "tagesspiegel"-artikel oben wird ja mein "spezial-randthema", die 300.000 "euthanasie"-opfer, erst gar nicht extra erwähnt - und auch ich habe jetzt seit 2 jahren nur noch eine anfrage zu meiner tante erna kronshage erhalten - allerdings kamen wir da wegen organisatorischen missverständnissen in der kommunikation und vorbereitung miteinander nicht auf einen nenner, sodass ich da die info-veranstaltung schließlich abgesagt habe ...

sehr erfreut war ich dann aber im letzten jahr über eine theateraufführung eines jugendtheater-kollektivs, dass sich ein stück mit dem opfer-schicksal meiner tante erna kronshage erarbeitet hat - [click hier]

und diese "privat"initiative hat dann das interesse der mitspieler*innen geweckt - und ich bin davon überzeugt: diese 13- bis 18-jährigen "schauspieler" werden das schicksal meiner tante ihr lebtag nicht mehr vergessen ... - aber dafür auch empathie und bewusstheit für diese zeit entwickeln ... 
trotzdem - nix für ungut - chuat choan ...





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