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„Meine Freunde sitzen draußen und trinken Aperol Spritz, und ich sitze zu Hause und beschäftige mich mit dem Holocaust“: die Filmemacherin Alexa Karolinski - nach: © Salzgeber & Co. Medien GmbH |
ALEXA KAROLINSKI
„Ich suche meine Antworten nie in Religion“
Was denken spielende Kinder am Holocaustmahnmal? Die Regisseurin Alexa Karolinski hat mit „Lebenszeichen“ einen Film über die Schoah gemacht. Die Autorin Julia Zange hat sich mit ihr unterhalten.
Von Julia Zange
Alexa Karolinski und ich sind uns das erste Mal bei einem geheimen Treffen zu einer Magazingründung begegnet. Das war vor über zehn Jahren, an einem Küchentisch in Berlin-Neukölln, in einer bunten internationalen Runde junger Künstler und Schreiber. Das Magazin gibt es nicht mehr, aber wir sind uns seitdem immer wieder über den Weg gelaufen. Alexa führte Regie bei einem Musikvideo, in dem ich mitspielte. 2014 zog sie zusammen mit ihrem Mann nach Los Angeles. Ich bin ein Nesthocker und wohne nach wie vor am Paul-Lincke-Ufer. 2016 drehte Alexa den Buchtrailer zu meinem Roman „Realitätsgewitter“. Und ein Jahr später spielte ich eine Rolle in ihrem Kurzfilm für „Vogue Italia“.
Uns verbindet eine Leidenschaft für den Medientheoretiker Siegfried Zielinski, bei dem ich studiert und meine Bachelor-Arbeit geschrieben habe. Alexa hat ihn sowohl für „Lebenszeichen“ interviewt als auch sich filmisch an seinen Ideen der „Anarchive“ orientiert – einer Anordnung von geschichtlichem Material, bei dem die Lebendigkeit nicht verloren gehen soll. Alexas Film ist anders als viele Dokumentationen über die Schoah – er spürt im Hier und Jetzt, im Gespräch mit Freunden und Freundinnen, mit Familie und Zufallsbekanntschaften, assoziativ und offen dem Horror der Geschichte nach.
WELT AM SONNTAG: Dein neuer Film „Lebenszeichen“ hat am 23. August Premiere. Freust du dich auf Berlin?
Alexa Karolinski: Sehr! Dieser Film ist seit vielen Jahren in meinem Leben. Seit vier Jahren akut, davor in Gedanken. Es war ein sehr intensiver Prozess, in dem ich durch die ganze Palette der Emotionen gegangen bin. Jetzt kommt das Baby endlich in die Welt. Ich freue mich besonders auf die Fragen und Gespräche.
WELT AM SONNTAG: Dein Umzug nach Los Angeles war also keine Flucht?
Karolinski: Weder bin ich aus Berlin geflüchtet noch aus Deutschland ausgewandert. Wenn sich eine andere Gelegenheit ergibt, würden wir auch woanders hinziehen. Die Welt ist zum Glück offener geworden. Leider nicht für alle. Es ist sehr privilegiert, das sagen zu dürfen: Heute sind wir hier, morgen dort. Ich hab einen kanadisch-deutschen Pass und mein Mann einen amerikanisch-französischen. Wenn man die Immigrationspolitik hier in Amerika verfolgt, scheint das absurd. Wo man Kinder von ihren Eltern trennt, während andere um ihr Leben flüchten.
WELT AM SONNTAG: „Lebenszeichen“ wird ein sehr kommunikativer Film.
Karolinski: Ich hoffe es. Leider gibt es in Deutschland eine Debattenkultur, mit der ich mich nicht besonders identifizieren kann. Ich beobachte das schon mein Leben lang, aber verstärkt aus der Distanz. Wenn man Teil einer kulturellen oder religiösen Minderheit in Deutschland ist, wenn man also direkt von der Thematik betroffen ist, dann wird man in den Antisemitismus- und Rassismusdebatten außen vor gelassen. Wobei, man muss noch nicht mal Minderheit sein; in der Sexismusdebatte ging es um Frauen, da ist es auch so. Beim Thema Antisemitismus wurde mir oft klargemacht, dass ich als Jüdin ja nicht objektiv sein kann. Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Film gemacht habe. In Deutschland liebt man besonders die Metadebatte.
Man fragt: „Was hältst du denn eigentlich von der MeToo-Debatte?“ Man redet nicht über den Inhalt, sondern darüber, wie man die Existenz der Debatte findet. Es gibt eine doppelte Distanzierung von der Auseinandersetzung mit sich selbst. Und das hat mit der deutschen Geschichte, der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs zu tun. Man deflektiert. In den USA lerne ich oft Leute kennen, die zugeben, dass sie nicht viel über ein Thema wissen, sie fragen viel und wollen nachlesen. Wenn ich nach Berlin komme, habe ich den Eindruck, die Leute denken, es sei am besten, so schnell wie möglich eine Meinung zu haben. Das sehe ich auch bei meinen progressiven, liberalen Freunden. Aber wäre es nicht radikaler zu sagen: Ich bin unsicher, oder ich habe gar keine Meinung, oder ich habe sogar einen inneren Konflikt? Man kann ja auch zwei Dinge auf einmal fühlen! Wenn ich über Deutschland spreche, spreche ich übrigens auch über mich als Deutsche.
WELT AM SONNTAG: Dein erster Film „Oma und Bella“ hatte einen sehr subjektiven Ansatz. Du porträtierst deine Oma und ihre beste Freundin, es wird viel gekocht, und jüdische Geschichte erzählt sich nebenbei. In deinem neuen Film ziehst du weitere Kreise, trittst aber auch wieder an das dir Bekannte heran wie mit einem Vergrößerungsglas: Berlin, deine Familie, Freunde. Weißt du, wonach du suchst, wenn du mit einem Film beginnst?
Karolinski: Bei diesem Film wollte ich bewusst vorher kein Ziel festlegen. Ich habe mich dafür verwundbar gemacht. Nur mit kompletter Offenheit findet man auch die kleinen Überraschungen. Ich wollte jede Energie, jedes Zeichen spüren können, was auch zu einer Art Depression innerhalb des Filmemachens geführt hat. Manchmal konnte ich wochenlang die Kamera nicht anfassen.
WELT AM SONNTAG: Weil man ohne Skript in der Luft hängt?
Karolinski: Ich wollte nicht mit dem herkömmlichen Rezept aus Gedenkstätten und Literatur den Holocaust bearbeiten. Und in dem Moment, wenn man es wieder an sich ranlässt, wird man eben depressiv. Ich hatte mir die Frage, warum das eigentlich passiert ist, jahrelang nicht gestellt. Außerdem habe ich im Sommer gedreht. Meine Freunde sind draußen und trinken Aperol Spritz, und ich sitze zu Hause und beschäftige mich mit dem Holocaust. Das war mir irgendwie peinlich. Dabei ist es okay und wichtig, diese verdammte Traurigkeit zuzulassen.
WELT AM SONNTAG: Hat diese intensive Auseinandersetzung dein Grundvertrauen in die Welt erschüttert?
Karolinski: Ich hatte nie dieses Grundvertrauen.
WELT AM SONNTAG: Die Szenen im Film wirken intim. Hattest du ein Filmteam dabei?
Karolinski: Am Anfang hatte ich ein Team, es stellte sich jedoch heraus, dass das Budget nicht für einen ganzen Sommer reichen würde. Ich habe dann beschlossen, dass ich alleine weiterdrehe. Im Nachhinein war das die beste Entscheidung. Ich konnte jederzeit losziehen und meiner Intuition folgen. Die Stolpersteine auf dem Gehweg habe ich zum Beispiel an einem Sonntag um 5 Uhr morgens gedreht, als ich nicht schlafen konnte.
WELT AM SONNTAG: In einer berührenden Szene reinigt ein altes Ehepaar die Skulptur an der Friedrichstraße, die den Kindertransport darstellt. Wie hast du deine Protagonisten gefunden? War es schwierig, Leute zu überzeugen, sich zu ihrer persönlichen Geschichte und dem Holocaust zu äußern?
Karolinski: Nein, es war nicht schwierig. Mit Freunden und Bekannten hatte ich sowieso schon viel über den Film geredet. Herr und Frau Michalski aus dieser Szene kannte ich vorher gar nicht. Ich hatte eine Bekannte zum Frühstück getroffen; sie kam von der S-Bahn. Sie sagte: „Alexa, ich hab gerade was Merkwürdiges gesehen. Wusstest du, dass es Leute gibt, die das Kindertransportdenkmal putzen?“ Ich dachte erst, vielleicht die BSR, habe dann aber erfahren, dass es ganz normale Bürger sind, die die Mahnmale putzen.
WELT AM SONNTAG: In einer Szene des Films diskutierst du mit einer Freundin. Ihr redet über ein Bild, das du mal auf Instagram gepostet hast. Darauf sieht man den Schriftzug „Neue Welt“ am Berliner Hermannplatz, der dich an das „Arbeit macht frei“ über einem KZ erinnert. Sie sagt, sie habe sich durch das Posting „beleidigt“ gefühlt.
Karolinski: Wir hatten damals bei einer Hochzeit darüber geredet und dann noch mal vor der Kamera. Ich finde es interessant, dass sie sagt: Mir war nicht bewusst, wie groß dein Trauma ist. Niemand hat eben darüber zu entscheiden, wie groß das Trauma eines anderen Menschen ist. Carolins Familie kommt aus der DDR. Wenn sie durch Berlin läuft, sieht sie Dinge, die ich nie sehen würde. Das Tolle an unserer Freundschaft ist, dass wir darüber reden können, wie es sich für sie anfühlt, Kind der ersten Generation des vereinigten Deutschlands zu sein, und ich darüber, wie es ist, die Enkelin von Holocaust-Überlebenden zu sein. Man hört sich gegenseitig zu.
WELT AM SONNTAG: Man sieht auch wieder deine Oma im Film. Hat sie „Lebenszeichen“ schon gesehen?
Karolinski: Ja, aber sie ist mittlerweile 91 Jahre alt und hört schwer. Sie wollte vor allem wissen, wie andere den Film finden. Ihr geht es eher darum, dass wir akzeptiert werden. Sie ist generell ein eher unkritischer Mensch. Sie hat sich nur etwas Sorgen gemacht, dass mein Bruder im Film die deutsche Hymne singt. Ich werde ihr aber die Artikel, die zum Film erscheinen, alle vorlesen.
WELT AM SONNTAG: Der Film startet mit einer Szene, in der deine Mutter den Tisch für Rosch ha-Schana deckt. Welche Rolle spielt jüdische Tradition für dich? Führst du sie auch unabhängig von deiner Berliner Familie in Los Angeles fort?
Karolinski: Gerade weil meine Familie den Holocaust erlebt hat, ist es für mich sehr schwierig, Religion, Familie und Kultur zu trennen. Ich habe eine sehr starke jüdische Identität. Vielleicht stärker als jüdisch-amerikanische Freunde. Ich liebe die Feiertage, weil dann alle Freunde und die Familie zusammenkommen. Auch hier in L.A. In die Synagoge gehe ich nur einmal im Jahr mit meiner Oma in Berlin. Ich bin kein religiöser Mensch. Man kann auch nicht wirklich eine jüdische Atheistin sein (lacht), aber in die Richtung geht es. Ich suche meine Antworten nie in Religion.
WELT AM SONNTAG: Das heißt, du suchst deine Antworten in der Welt?
Karolinski: Ich suche sie in der Kunst, in Büchern und in meinen Mitmenschen. Natürlich auch in der Geschichte.
WELT AM SONNTAG: Deine Mutter erzählt im Film, wie sie deinen Vater in Florida kennengelernt hat. Er hat sich nicht getraut, ihr zu erzählen, dass er aus Deutschland kommt. Kannst du das Schamgefühl noch nachvollziehen? Geht dir das in den USA manchmal so, dass man es lieber nicht erzählt? Oder wird das überlagert von dem Bild des weltoffenen, kreativen Berlins?
Karolinski: Nein, das ist mir seit Jahren nicht mehr unangenehm. Dass Berlin mittlerweile die „coolste Stadt der Welt“ ist, hat geholfen. Ich erinnere mich an eine Situation aus der Kindheit. Wir waren in Israel im Urlaub, und der Taxifahrer hat mich als Nazi beschimpft, als ich ihm sagte, dass ich aus Deutschland komme. Man musste schon viel erklären, warum man in Deutschland lebt. Das höre ich eigentlich gar nicht mehr. Das liegt auch daran, wie sehr Berlin sich verändert hat. Ich höre von vielen Juden aus der Generation meiner Eltern, dass sie gerade zum ersten Mal in Deutschland waren. Ein Schamgefühl hatte ich aber nie wirklich. Ich hatte nur nie eine Antwort auf die Frage, warum meine Familie hier geblieben ist. Bis ich die historischen und emotionalen Gründe für mich selbst gefunden habe.
WELT AM SONNTAG: In einer eindrücklichen Szene bist du am Holocaustmahnmal und interviewst zwei französische Kinder, die zwischen den Betonstelen spielen. Es ist ein besonderer Moment, weil sich auf dem ganzen grauen Erbe eine Szene der Unschuld ereignet.
Karolinski: Bis zum Filmdreh war ich noch nie am Mahnmal. Ich dachte immer, vielleicht arroganterweise, dass das nichts für mich ist. Warum sollte ich dahin gehen, wenn ich zu Hause ein lebendiges Mahnmal habe? Zum Prozess des Films gehörte: Wie gehen andere Leute an die Geschichte heran? Ich war tagelang dort, weil ich nicht wusste, was ich suchte. Ich hätte stundenlange Filme machen können von Leuten, die auf den Steinen rumspringen und Selfies machen. Nachdem ich so lange da war, muss ich sagen: Das Mahnmal ist toll! Es ist dunkel und hell zugleich. Fühlt sich erdrückend und befreiend an. Und irgendwann habe ich mich auch einfach auf einen Stein gelegt und die Luft geatmet.
Für mich ist es das gelungenste öffentliche Kunstwerk, das ich je gesehen habe. Zu jeder Tageszeit fühlt es sich anders an. Kunst ist dazu da, dass wir über unser eigenes Leben nachdenken. Deswegen finde ich es wunderbar, dass Leute am Mahnmal machen, was sie wollen. Auch Selfies. Man ist frei dort. An einem Tag waren die Dokumentarfilmgötter besonders gut zu mir und haben mir die französische Familie geschickt. Das kleine Mädchen sagt genau, wie es ist. Für sie fühlt es sich frei an. Die Geister sind hier frei.
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und click vielleicht hier: https://anarchaeologie.de/
so wie sich die akteure und schauspieler des "jugendvolxtheaters bethel" neulich das nazi-'euthanasie'-leidensporträt meiner tante erna kronshage in ihr neuestes theaterstück "ich will leben - besonders|anders""angeeignet" und integriert haben und es in beziehung gesetzt haben zu ihren eigenen begabungen und stärken und gleichzeitig zu ihren (ich sag mal ganz despektierlich vielleicht "pubertären") macken und gewohnheiten und tics - so stelle ich mir auch den oben im interview genannten begriff der "anarchive" vor, den der medientheoretiker prof. siegfried zielinski da formuliert - und der einen so großen stilistischen eindruck ausgeübt hat auf den film: "lebenszeichen - jüdischsein in berlin" von alexa karolinski.
im artikel zum film heißt es nämlich: "alexas film ist anders als viele dokumentationen über die schoah – er spürt im hier und jetzt, im gespräch mit freunden und freundinnen, mit familie und zufallsbekanntschaften, assoziativ und offen dem horror der geschichte nach." - und das geschieht ja im theaterstück auch: ernas horror wird nachgespürt mit eigenen erarbeiteten szenen und assoziationen und mit der musik und mit dem gebrüll-sound adolf hitlers ("flink wie windhunde - hart wie kruppstahl") von damals unterlegt: aber auch in dynamisch tänzerischen und in sehr nachdenklichen sequenzen - authentisch mit heranwachsenden von heute - von jetzt ...
und es geschieht ja beides eigentlich ambivalentes nebeneinander her: auf der einen seite wird das gefühl der "ferne", der 70-80 jahre zurückliegenden ereignisse aufgerufen als er-innerung - und gleichzeitig wird eindrücklich die erschreckende aktualität und die eigentliche zeitlosigkeit und alltäglichkeit dieses horrors in die gegenwart projiziert ...
und ob es angebracht ist oder besser nicht: ein wenig scheint für mich ja in dem ansatz von alexa karolinski auch der kürzlich verstorbene claude lanzmann mit seinem berühmten "shoah" wieder durch: seine langsamen stummen minutenlangen kamerafahrten über das gras auf den massengräbern und seine insistierenden interviews mit den zeitzeugen von damals - und seine überlange oft unterbrochene produktionszeit ...
und ob es angebracht ist oder besser nicht: ein wenig scheint für mich ja in dem ansatz von alexa karolinski auch der kürzlich verstorbene claude lanzmann mit seinem berühmten "shoah" wieder durch: seine langsamen stummen minutenlangen kamerafahrten über das gras auf den massengräbern und seine insistierenden interviews mit den zeitzeugen von damals - und seine überlange oft unterbrochene produktionszeit ...
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ich habe keine ahnung, ob ich das richtig verstanden habe: aber das alles sind für mich beispiele für das, was ich mit meinen empfindungen wohl unter den für mich erst einmal abstrakten begriffen von "anarchaeologie" und "anarchive" verstehen könnte ... -
und wer also noch einmal selbst diesen gedankengängen folgen möchte: hier der link zum theaterstück und zu erläuterungen der szenenfolge, wie ich sie als zuschauer gedeutet habe.
ich habe übrigens einem gewissen wohl 13-köpfigen "inner-circle" von "einschlägigen" verwandten und bekannten diesen theaterstück-link schon vor wochen zukommen lassen - doch ich habe dazu nur eine einzige reaktion und rückmeldung erhalten ... - aber auch das muss wohl so als zeitgemäßes scham-verhalten oder ignorieren so hingenommen werden: augen zu - und durch ...