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hans-guck-in-die-luft
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stolpersteine: opfer & täter
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zum Original-BILD-Essay: click here |
und hier die Stellungnahme aus "titel-thesen-temperamente - ttt" von Max Moor dazu:
Schluss mit Moor:
Stolpersteine für Nazis?
Was wäre, wenn es nicht nur für Holocaust-Opfer, sondern für NS-Täter Gedenksteine gäbe? Max Moor rechnet das mal durch ...
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click auf die steine zum original-video |
stolpersteine - das liegt wohl in der bezeichnung der kleinen mahn-plaketten an sich - werden immer mal wieder zu "steinen des anstoßes": in münchen wurde jahrzehntelang im rat beraten, ob man stolpersteine überhaupt legt. die präsidentin der "israelitischen kultusgemeinde münchen und oberbayern", charlotte knobloch, kämpfte vehement dagegen an, weil sie der meinung war, "auf den opfern des holocaust dürfte nicht noch einmal herumgetreten werden" ... inzwischen einigte man sich in münchen auf kleine aufrecht montierte erinnerungs-platten an wänden und mauern ...
die stolpersteine sind ja keine grabsteine - sondern einzelne hinweisplaketten auf den letzten wohnsitz der nazi-mordopfer - soweit bekannt: und geben vielleicht anlass, nachzudenken, wenn man über sie "stolpert" ... nicht mehr - aber auch nicht weniger ...
und in berlin gab es eine handvoll rechte vandalen und zerstörer, die es sich zur aufgabe machten, mit einem werkzeug die messingplättchen der stolpersteine mit den opfernamen vom grundstein abzuknipsen - ganze straßenzüge entlang ...
und doch hat der schöpfer dieses größten dezentralen europäischen mahnmals, der künstler gunter demnig, gegen all diese hindernisse bis heute über 70.000 stolpersteine gelegt - mit der erlaubnis der jeweiligen stadt-ordnungs- und bau-ämter, die ihm dazu per ratsbeschluss jeweils die genehmigung erteilten und sozusagen die schirmherrschaft übernahmen - hand in hand mit den jeweiligen "stolperstein-paten" und "paten-gemeinschaften", die den stein dann jeweils für 120 euro legen lassen.
und nun kommt die bild-zeitung daher mit ihrer "schnaps-idee" (karnevals-anfang ist ja datumsmäßig nicht weit entfernt)- wieder mal, um eine nonsens-diskussion anzuzetteln in dieser rechts-populistisch aufgeladenen zeit - besonders aber wohl auch, um diese neue herumschwadronierende rechte auflagenmäßig und als werbekunden bei der stange zu halten: die könnten dann nämlich ihre "helden" und heutigen "holocaust-verleugner(innen)" auch mal "gebührend" auflesen - und vielleicht verlören sie dann ja im duhnen kopp den überblick, welcher stein nun abzukappen sei und welcher nicht ... - ich sag ja: mal wieder eine echte "schnapsidee" der bild-zeitung:
rasch in ein paar dutzend zeilen hingeklirrt - und sowohl die negativen als auch die positiven bewertungen dazu sind ja letztlich "werbung" und clicks und rückmeldungen - und kurbeln in jedem falle das "geschäft" an - und darum geht's ... - und die täter und die opfer sind doch in wiklichkeit nach 80 jahren sowas von schnurzpiepegal - auf ein paar steinchen mehr oder weniger kommt es da doch gar nicht mehr an ... - und irgendwie ärgere ich mich, mit einer solchen stellungnahme wie hier an dieser rigorosen schwarz-weiß-verkaufsstrategie der bild beteiligt zu sein ... tschuldigung ...
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vor 75 jahren: am 12./13.11.1943 wird erna kronshage von der heilanstalt gütersloh zur tötungsanstalt tiegenhof/gnesen deportiert
Sie sehen als Auszug die Seiten 71 bis 80 aus dem Yumpu-Bilddoku-Magazin von Edward Wieand:
Nazi-'Euthanasie'-Mord: Ernas Leidensporträt - In Bildern, Dokumenten und Fakten, 5. durchgesehenes Update: 07 | 2018 | 114 Seiten
Nazi-'Euthanasie'-Mord: Ernas Leidensporträt - In Bildern, Dokumenten und Fakten, 5. durchgesehenes Update: 07 | 2018 | 114 Seiten
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Der Deportations-Transport-Zug trifft am Morgen des 13.11.1943 in Gnesen (heute wieder Gniezno-PL) ein |
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the last support - das letzte dienstgespräch
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gyros auf dem weihnachtsmarkt
AfD, die
Kultur und
die Wurst
Am Montagabend kam es im Bundestag zu einer eher seltenen Begegnung. Auf Einladung der AfD diskutierten der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, und der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, mit zwei Vertretern der AfD-Fraktion über Kulturpolitik. Genauer gesagt: über die vor mehr als einem Jahr unter dem Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“ vorgestellten „15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt“. An denen hatten Ministerien, Verbände,Kirchen, Medienvertreter, Gewerkschaften und Arbeitgeber mitgewirkt. Die AfD hat dazu ein Gegenpapier erarbeitet.
Wer ein Gespür für die Kulturpolitik der AfD bekommen will, konnte einiges lernen. Es werde durchgehend davon ausgegangen, dass die deutsche Kultur und die Kultur der Zuwanderer gleichwertig seien, bemängelte Marc Jongen, kulturpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion. Doch bei der Integration könne die Leitkultur nicht ausgesondert werden. Der AfD-Medienpolitiker Martin Renner kritisierte, dass über „deutsche Identität“ in dem Thesenpapier überhaupt nicht gesprochen werde.
Was sie damit meinen, beantworteten die AfD-Politiker nicht. „Es gelingt ihnen nicht, positiv zu beschreiben, was deutsche Kultur eigentlich ist“, kritisierte denn auch Claussen. „Aggressiv“ überspiele die AfD diese Leerstelle. Renner führte mit Blick auf eine vermeintlich drohende Islamisierung Weihnachtsmärkte an, die es kaum noch gebe, und fehlende Würstchen aus Schweinefleisch auf dem Kitagrill.
Auf Schlagwörter reduziert sind auch die Einlassungen zur Kulturpolitik im Grundsatz- und Wahlprogramm der AfD. Auch dort ist von „deutscher Leitkultur statt Multikulturalismus“ zu lesen. Konkret wird die AfD allenfalls im Negativen, wenn es zum Beispiel um die Verhinderung vermeintlich linker Kultur geht. Da aber wird es dann schnell sehr konkret. Etwa wenn die AfD die Zulässigkeit von Fördergeldern für Kunstprojekte gegen Rassismus kritisiert.
Wenn sie versucht, Konzerte von Feine Sahne Fischfilet zu verhindern. Oder gegen Stücke vorgeht, die sich für Toleranz einsetzen, wie das Theater Dessau mit „Der Fremde so nah“.
Konkret wird die AfD auch, wenn es um die deutsche Geschichte geht und die angebliche Verengung auf die NS-Zeit. Björn Höcke nannte das Holocaust-Mahnmal ein „Denkmal der Schande“ und will eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“.
Alexander Gauland möchte auf die Soldaten der Wehrmacht stolz sein dürfen und verharmlost die Zeit des Nationalsozialismus als „Vogelschiss“.
Konkret will die AfD die deutsche Sprache im Grundgesetz verankern. Dieser Antrag ist im Frühjahr im Bundestag gescheitert.
Sabine am Orde|taz - Donnerstag, 15.11.2018, Seite 05
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Kultur und
die Wurst
Am Montagabend kam es im Bundestag zu einer eher seltenen Begegnung. Auf Einladung der AfD diskutierten der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, und der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, mit zwei Vertretern der AfD-Fraktion über Kulturpolitik. Genauer gesagt: über die vor mehr als einem Jahr unter dem Titel „Zusammenhalt in Vielfalt“ vorgestellten „15 Thesen zu kultureller Integration und Zusammenhalt“. An denen hatten Ministerien, Verbände,Kirchen, Medienvertreter, Gewerkschaften und Arbeitgeber mitgewirkt. Die AfD hat dazu ein Gegenpapier erarbeitet.
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gyros auf dem "deutschen" weihnachtsmarkt . foto: flickr |
Wer ein Gespür für die Kulturpolitik der AfD bekommen will, konnte einiges lernen. Es werde durchgehend davon ausgegangen, dass die deutsche Kultur und die Kultur der Zuwanderer gleichwertig seien, bemängelte Marc Jongen, kulturpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion. Doch bei der Integration könne die Leitkultur nicht ausgesondert werden. Der AfD-Medienpolitiker Martin Renner kritisierte, dass über „deutsche Identität“ in dem Thesenpapier überhaupt nicht gesprochen werde.
Was sie damit meinen, beantworteten die AfD-Politiker nicht. „Es gelingt ihnen nicht, positiv zu beschreiben, was deutsche Kultur eigentlich ist“, kritisierte denn auch Claussen. „Aggressiv“ überspiele die AfD diese Leerstelle. Renner führte mit Blick auf eine vermeintlich drohende Islamisierung Weihnachtsmärkte an, die es kaum noch gebe, und fehlende Würstchen aus Schweinefleisch auf dem Kitagrill.
Auf Schlagwörter reduziert sind auch die Einlassungen zur Kulturpolitik im Grundsatz- und Wahlprogramm der AfD. Auch dort ist von „deutscher Leitkultur statt Multikulturalismus“ zu lesen. Konkret wird die AfD allenfalls im Negativen, wenn es zum Beispiel um die Verhinderung vermeintlich linker Kultur geht. Da aber wird es dann schnell sehr konkret. Etwa wenn die AfD die Zulässigkeit von Fördergeldern für Kunstprojekte gegen Rassismus kritisiert.
Wenn sie versucht, Konzerte von Feine Sahne Fischfilet zu verhindern. Oder gegen Stücke vorgeht, die sich für Toleranz einsetzen, wie das Theater Dessau mit „Der Fremde so nah“.
Konkret wird die AfD auch, wenn es um die deutsche Geschichte geht und die angebliche Verengung auf die NS-Zeit. Björn Höcke nannte das Holocaust-Mahnmal ein „Denkmal der Schande“ und will eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“.
Alexander Gauland möchte auf die Soldaten der Wehrmacht stolz sein dürfen und verharmlost die Zeit des Nationalsozialismus als „Vogelschiss“.
Konkret will die AfD die deutsche Sprache im Grundgesetz verankern. Dieser Antrag ist im Frühjahr im Bundestag gescheitert.
Sabine am Orde|taz - Donnerstag, 15.11.2018, Seite 05
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der afd geht es bei der "leitkultur" eindeutig um die wurst - um die schweinefleisch-bratwurst auf dem kita-grill ...
nun - als 3/4-vegetarier muss ich dann wohl auswandern, sollte die afd jemals die deutsche kultur maßgeblich bestimmen. auch bei "deutscher identität" hätte ich ja meine probleme - gibt es das "deutsche reich" ja erst seit 1871 - also erst knappe 150 jahre - und das sich eben wie fast alle "volksgemeinschaften" dieser erde aus einer vielzahl von volksgruppen zusammensetzt, die alle durch migration, flucht vor kriegswirren, vertreibung und wanderungen völlig durcheinander sich "vermischt haben: ostpreußen mit balten, sachsen und bayern, hessen und thüringer, lothringer und ostfriesen, westfriesen und nordfriesen, württemberger und saarländer, lipper und westfalen - alles mal eigenständige "staaten" und "nationen" und "provinzen" - mit könig und graf und landesherren usw.
da ist das mit einer maßgeblichen identität schon problematisch: mein opa wurde als donauschwabe in ungarn geboren, ging in die usa, kam ala wirtschaftsflüchtling von dort zurück ins ruhrgebiet, wo dann mein zunächst "staatenloser" vater geboren wurde, der dann "preußischer staatsbüger" wurde und so zur "deutschen" wehrmacht 1939 eingezogen wurde ... hinter welcher "identität" soll ich mich da ausrichten.
und die meisten menschen in mitteleuropa haben es schwer, ihre familien rückwirkend bis über 1618 (beginn 30-jähriger krieg) hinaus "deutsch" zu verorten - was immer das dann auch sein mochte... - betreibe mal ein wenig "genealogie" - du wirst staunen, was das für ein kommen und gehen war durch die jahrhunderte von generation zu generation.
inzwischen kann man auch für ca. 70 euro gen-speicheltests machen lassen zu bestimmung der jeweiligen "abstammung" bei den einschlägigen internationalen genealogischen instituten (googeln): und siehe da: die "wurzeln" jedes einzelnen reichen meist über die "deutschen" landesgrenzen hinaus ...
selbet herr orbán ist gar nicht der ur-"magyare", den er gern heraushängen lässt - seine vorfahren kommen wahrscheinlich aus belgien oder luxemburg - wenigstens leben auch dort "orbáns" - und ungarn ist ja ein vielvölker-einwanderungsland. das hat man scheinbar heute vergessen ...
inzwischen kann man auch für ca. 70 euro gen-speicheltests machen lassen zu bestimmung der jeweiligen "abstammung" bei den einschlägigen internationalen genealogischen instituten (googeln): und siehe da: die "wurzeln" jedes einzelnen reichen meist über die "deutschen" landesgrenzen hinaus ...
selbet herr orbán ist gar nicht der ur-"magyare", den er gern heraushängen lässt - seine vorfahren kommen wahrscheinlich aus belgien oder luxemburg - wenigstens leben auch dort "orbáns" - und ungarn ist ja ein vielvölker-einwanderungsland. das hat man scheinbar heute vergessen ...
und wie das große amerika ja zusammengewürfelt ist aus vielen unterschiedlichen ethnischen gruppierungen, ist der ständige wandel der "identitäten"über diese generationen die regel. denn nichts ist so beständig wie der wandel ...
und ob wir wollen oder nicht - als "vaterlandslose gesellen" schaffen wir uns unsere "heimat" selbst durch eine eigenständige "setzung", die auch mal wieder verändert werden kann im laufe des lebens und des schicksals - und "wir" sind die weltmeister im reisen - und gehen zum griechen und zum türken und zum italiener und ins china-restaurant - und es schmeckt uns - ganz ohne schweinefleisch-bratwurst - und das ist auch gut so ...
ach - und die weihnachtsmärkte - die deutschen weihnachtsmärkte: ich bin jetzt über 70 - und weiß, dass der "boom" an weihnachtsmärkten erst vor 50 jahren aufkam - und all die marktbeschicker sind zumeist ein ganz internationales völkchen: mit türkischer zuckerwatte, und cevapcici, und gyros und crepes und den orientalischen lebkuchen-gewürzen - und eine sinti-frau als kartenlegerin - und sankt nikolaus kam ursprünglich aus der heutigen türkei - und das alles auf einem "deutschen weihnachtsmarkt" - da kann man nur mit irgendwas schütteln - und wenn es auch der kopf ist...
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wie gewonnen - so zerronnen ...
Optischer Effekt
3D-Illusionen - wie weggefegt
Manche Menschen essen im Wohnzimmer, hören Musik oder gucken Fernsehen. Dieser Mann aus China schafft dort 3D-Kunstwerke aus Sand - und zerstört sie anschließend.
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schuster bleib bei deinen leisten
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von nun an bekomme ich wohl auch regelmäßig das "morning-briefing" von gabor steingart - der in seiner heutigen morgen-ausgabe vom cdu-showdown in kiel um die vorsitz-nachfolge berichtet ... - und da skizzierte er kurz, dass der kandidat merz bei seinem statement "auf der christlich-jüdischen tradition des abendlandes" bestand.
auch die kanzlerin und einige andere politiker(innen) benutzen gern diesen begriff von den "christlich-jüdischen werten des abendlandes"- und merken dabei gar nicht, welch einem völlig unsachlichen popanz sie da aufsitzen, der theologisch-philosophisch-historisch überhaupt nicht nachzuweisen oder auch zu halten ist.
auch die kanzlerin und einige andere politiker(innen) benutzen gern diesen begriff von den "christlich-jüdischen werten des abendlandes"- und merken dabei gar nicht, welch einem völlig unsachlichen popanz sie da aufsitzen, der theologisch-philosophisch-historisch überhaupt nicht nachzuweisen oder auch zu halten ist.
nun - wer so spricht, meint ja heutzutage gleichzeitig zumindest die "gefühlte" ablehnung des islams als glaubens-weltbild, ohne das explizit auch so benennen zu wollen - doch gleichzeitig tut er das mit einer leider obstrusen floskel, denn eine solch apostrophierte"christlich-bindestrich-jüdische tradition"gibt es im "abendland" gar nicht - und hat es nie gegeben - dann schon eher eine jüdisch-muslimische(!) liaison über die jahrhunderte hinweg - in bestimmten gebildeten kreisen zumindest - unter den akademischen religions-gelehrten.
ein organisierter "christlich-jüdischer dialog" wurde erst nach der shoah mit wahrscheinlich großem schlechten gewissen der christlichen seite begründet, vielleicht in der hoffnung auf irgendeine art "vergebung" - so um 1947 - und der ratsvorsitzende der evangelischen kirche bezeichnete diesen dialog nach 70 jahren 2017 immer noch als ein "zartes pflänzchen" gegenseitigen kennenlernens voneinader ... - wahrscheinlich bleibt das - so meine meinung - ein lebenslanges und epochales lernen ...
schon von anfang an war nämlich da ein wenig "der wurm drin" - um es salopp auszudrücken: jesus von nazareth war ja jude und ist auch als jude hingerichtet worden, der sich mit dem tempel-establishment in damaligen glaubensfragen in deren augen geradezu "blasphemisch" angelegt hatte - was dann mit hilfe der römischen besatzungsmacht in einem schauprozess in jerusalem abgeurteilt wurde - und mit dem tod am kreuz endete.
die hochstilisierung zu einem "christus" - und zu dem schon in den jüdischen schriften erwarteten "messias" - wurde diesem jungen rebell damals vom jüdischen establishment überhaupt nicht zuerkannt - und auch heute noch sind "juden-christen" - also juden, die an jenen jesus-"christus" glauben - eher eine minderheiten-sekte im judentum.
es war der paulus von tarsus, der zunächst als verfolger der kleinen jerusalemer jesus-gemeinde sich ur-plötzlich "bekehrt" spürte - und dann die umfassende theologie eines "christus"-jesus und seiner messianischen befreiungsrolle in schriften und briefen - also auf dem papier - planvoll entwarf - oft im widerstreit mit der familie des tatsächlichen jesus von nazareth (besonders mit dem bruder jesu namens jakobus) aber auch mit dem "apostel" petrus, die insgesamt der kleinen übriggebliebenen jerusalemer jesus-schwestern- und bruderschaft angehörten.
paulus zog dann in missionarischer Absicht in die provinzen rund um das mittelmeer umher, und hämmerte seine theologie von diesem "christus" und dann dem von ihm gleichzeitig "erfundenen" sühneopfer jesu am kreuz - zur vergebung der sünden aller menschen - all den suchenden ein - alle die damals einen ankerplatz für die politischen und wirtschaftlichen alltags-zustände jener antiken zeit suchten.
- im weiteren verhältnis zwischen juden und christen sind die kreuzzüge mit den verheerenden zerstörungen und genoziden im "heiligen land" zu nennen,
- im mittelalter die vehemente ablehnung martin luthers aller jüdischen kultur gegenüber, die das "christliche" als das neue und das überlegene herausstellte ... -
- was dann schließlich im holocaust mit den millionen opfern seinen traurigen höhepunkt fand ...
das "jüdische" war bei den "christen" stets suspekt und anders und fremd - und manchmal sogar gesetzlich zum nachteil der jüdischen mitbürger geregelt (verbote, bestimmte berufe ausüben zu dürfen) - und dass man im jüdischen den gedankengängen jesu vielleicht viel näher sein konnte wurde in der regel einfach negiert.
dagegen stellten dann später die gebildeten muslimischen und jüdischen lehrer als "semitische" nachbarn oder landsleute miteinander viel eher zumindest eine viel nähere "verwandtschaft" auf intellektuell-theologischer basis dar - die sich oft auch arabisch verständigen konnten - und wo bei den muslimen in den koran-schriften sowohl der alte jüdische "stammvater" abraham als auch der jude jesus von nazareth selbst ihren angestammten platz und eine angemessene verehrung finden... - was heute gern einfach ausgeblendet wird unter den "einfacheren" und jüngeren juden und muslimen ... - besonders auch wenn sie sich aus altem "auge um auge - zahn um zahn"-denken politisch und "rassistisch" bekriegen.
was aber dann schon auch schwierig ist, das genetisch zu begründen: z.b. sind die palästinenser und die juden ja nachbarn auf engstem raum und genetisch oft blutsverwandt - aber stehen sich eben lediglich mit verschiedenen glaubensmäßig-politischen überzeugungen gegenüber...
und wo ist in der "gemengelage" eine "christlich-jüdische tradition" im abendland ... ???
und wo ist in der "gemengelage" eine "christlich-jüdische tradition" im abendland ... ???
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"abrahamitische" glaubens-embleme: das von juden & muslimen gemeinsam theologisch abgelehnte "kreuz" - der davidstern und der muslimische halbmond ... |
click dazu auch hier
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irre fahrten von jetzt auf gleich
JONATHAN MEESE
Ein Sehnsuchtstyp
Jonathan Meese ist wieder da. Warum wir ihn heute mehr denn je brauchen. Eine Würdigung.
Von Boris Pofalla | welt.edition
Alles, was diese Zivilisation produziert, wird früher oder später Abfall: Die Werkschau des Jonathan Meese passt in einen einzigen Raum - Copyright: © Jonathan Meese /VG Bild-Kunst, Bonn 2018/ Jörg Koopmann
Man hatte sich das anders vorgestellt. Eine Werkschau für den von der Kritik traditionell als mythenseligen Provokateur verstandenen Jonathan Meese müsste dunkler und höhlenhafter sein. Wirrer auch. Aber dann steht man in der etwas aseptischen Pinakothek der Moderne in einem seltsam körperlos gewordenen Saal, in den pudriges weißes Licht fällt und dessen Decke wiederum in lauter Quadrate unterteilt ist. Diese Decke sieht aus wie der transluzente Boden des Raums in der letzten Szene von „2001 – Odyssee im Weltraum” von Stanley Kubrick. Das ist schlüssig, denkt man, denn diese Retrospektive heißt ja ebenfalls nach Homers Odyssee.
„Die Irrfahrten des Meese“ kommt mit einem einzigen Saal aus, aber der hat es in sich. Die in zarten bis leuchtenden Farben glühenden Gemälde an den Wänden, die Vitrinen mit den Zeichnungen und die kleinen Plastiken und Assemblagen auf den schmalbeinigen Tischen: All das schwebt in diesem körperlosen Weiß. Man ist hier wie in Watte gepackt. Auch weil der Boden mit Teppich ausgelegt wurde, der selbst wiederum ein Bild von Jonathan Meese ist: ein roter Fleck, aus dem lang gezogene Farbspritzer wie Tentakel in die Weite des Raumes ausgreifen. In der Mitte steht „Zielsetzung Kunst“, von dort streben schwarze Pfeile nach außen, neben denen für Meese wichtige Figuren und Begriffe aufgeführt sind: Conan. Nero. Mumin. Camelot. Zardoz. Caligula. Liebe. Es ist ein Schaubild, es erklärt uns die Welt. Meeses Welt.
Geboren 1970 in Tokio, als Kind umgetopft nach Ahrensburg, studierte der Sohn einer Deutschen und eines Walisers bei Franz Erhard Walther in Hamburg. Ab Ende der 90er-Jahre wurde er mit ausufernden Installationen und aufsehenerregenden Performances bekannt. Seine mit kindlicher Fröhlichkeit betriebene Vermengung von germanischen Sagengestalten, militärischen Symbolen und Popkultur wurde international ausgestellt. Eine Inszenierung des Rings in Bayreuth scheiterte an den Wagners, dafür hat Meese mit seiner Inszenierung des „Mondparsifal“ in Berlin und Wien brilliert. Vor Kurzem ist bei Walter König seine Biografie erschienen. Meese ist berühmt, eine Retrospektive war überfällig. Jetzt ist sie da, präzise kuratiert von Swantje Grundler und Bernhart Schwenk.
Aber muss eine Retrospektive nicht trotzdem viel größer ausfallen? Bemisst sich der Ruhm und die Bedeutung eines Künstlers nicht nach Quadratmetern, die ihm oder ihr in einem wichtigen Kunsthaus freigeräumt werden? Doch, sicher, und deshalb wandert man ja auch so oft durch Museumswüsten, in denen super wichtige Oeuvres ausgebreitet werden wie Argumente in einem niemals endenden Kommunepalaver. Der Geist des Archivs weht derart scharf durch unsere Zeit, dass man den nicht vorhandenen Hut festhalten muss. Dass künstlerische Bedeutung heute vor allem in Mimesis und Addition gesucht werden, beweist der Boom der immer weiter ausufernden Biennalen und Documenta. Noch ein Raum, noch ein aufgelassenes Haus, noch eine Stadt, noch eine Facette der Realität, immer mehr, mehr, mehr. Man will die Wirklichkeit einfangen, die harte unbekannte Welt da draußen, in der es Kriege gibt und Hass und Hunger. Es muss immer mindestens um alles gehen, und zwar gleichzeitig und mit einer ernsten Miene. So viele Podiumsdiskussionen, so viele Ordnungsrufe waren nie. Die Kunstwelt ist, seit Meese in den 90er-Jahren mit seinem Werk begonnen hat, immer kataloghafter und indexikalischer geworden. Sie fühlt sich zunehmend unwohl in ihrer Haut, in dieser weißen, westlichen, privilegierten Haut, aus der sie so gern herauskommen würde, aber nicht kann, denn für den Körpertausch ist man dann doch noch nicht bereit.
Für viele im Kunstbetrieb ist Jonathan Meese über die Jahre zu einer Hassfigur geworden: einer, der sich immer wieder über politisch engagierte Künstler lustig macht; einer, der sich zweimal am Tag in die Badewanne legt und am liebsten sowieso sein Zuhause nicht verlässt (und wenn, dann in Begleitung seiner Mutter). Ein 48-jähriger Mann, dessen lange dunkle Haare nun langsam grau werden und der sich eher zum dreihundertsten Mal „A Clockwork Orange“ oder „The Wicker Man“ ansieht, als den Coltan-Bergbau im Kongo künstlerisch aufzuarbeiten oder mit Solarlampen die Welt zu retten („Realität bringt mir nichts“). Die Kunstkritik in ihrer derzeitigen Verfassung kann das unmöglich gut finden und natürlich tut sie das auch nicht. Der „Spiegel“-Autor Georg Diez musste sich die „Irrfahrten des Meese“ gar nicht erst ansehen, um ihm im Kunstmagazin „Monopol“ zu bescheinigen, er sehe „nur das Deutsche“, reduziere es auf Comicformat und blähe es gleichzeitig auf und verbreitete damit „den scheußlichen Odem, geruchsbefreit“. (Es ist derselbe Kritiker, der 2012 im Schriftsteller Christian Kracht einen totalitären Denker erkannte.) An Jonathan Meese offenbaren sich wie bei keinem anderen die Erwartungen, die im Moment an Künstler gerichtet werden. Die Argumentation geht so: In den 90er-Jahren sei das ja noch ganz lustig gewesen, dieses Herumkramen in den Grabbelkisten von Sagen und Diktaturen. Aber jetzt?
„Jetzt sind nicht nur die Fahnen und Aufmärsche und Rassismus wieder da“, schreibt Catrin Lorch in der „Süddeutschen Zeitung“, „sondern auch das ganze rechte Interesse an Historie, an Geschichtsklitterungen, Umdeutungen, Verleumdungen. Es spricht nicht für das Werk, dass Jonathan Meese da nicht gefragt war, weder als Prominenter noch als Künstler”. Der Wert eines künstlerischen Oeuvres bemisst sich demnach daran, ob es im Diskurs zu Illustrationszwecken von Weltdiagnosen gefragt oder nicht gefragt ist. Wenn das so ist, wozu braucht man dann das künstlerische Feld? Kann man dann nicht gleich Leitartikel an die Wände hängen? Der Freiraum der Kultur, bemängelt Lorch, fühle sich bei Meese an wie eine Resterampe.
Aber wie soll sich Freiheit denn sonst anfühlen, wenn nicht wie eine Resterampe? Bei Meese gibt es nichts, was es nicht gibt, und es kostet nichts. Mit dem Abgelegten, dem Verkannten, dem Skurrilen und Kindlichen, dem Pubertären und Abenteuerlichen, den Humpty-Dumptys und Mumins, Gralsrittern und Aliens ist zwar ein Werk, aber kein Staat zu machen. Meese ist ein großartiger Maler, ein unglaublich einfallsreicher Plastiker (und zwar schon seit 20 Jahren, wie man hier sehen kann). Aber er ist eben nicht Anselm Kiefer: Meese veralbert, statt zu überhöhen. Alles, was diese Zivilisation produziert, wird früher oder später Abfall. Das, was durch die Produktion und Zweitverwertung des Abfalls hindurchpulst, diese überaus menschliche Energie heißt bei Meese „Diktatur der Kunst“. Er vergöttert nicht Nero oder Stalin, sondern schneidert aus ihren Mänteln Uniformen, die ausschließlich auf Bühnen getragen werden sollen. Der Hitlergruß, für den Meese 2013 vor Gericht stand und freigesprochen wurde, war Teil einer Performance. Trotzdem haben Museen ihn danach gemieden.
Wenn wir zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden können, haben wir ein Problem. Die Unbedingtheit, mit der Jonathan Meese auf dem Existenzrecht von Fiktion beharrt, ist wichtiger denn je. Wir sehen, wie das Fantastische und Eigensinnige vom Nützlichen und Korrekten abgelöst wird. Meeses Werk handelt von der Freiheit, sich von den Zumutungen und angeblichen Wichtigkeiten der Gesellschaft freizumachen. Der matten Ödnis von offenen Briefen und gereizten Debatten wird bei Meese der in seiner Lächerlichkeit über sich hinauswachsende Held entgegengesetzt. Er ist ein Eskapist reinsten Wassers. Einen einzigen wird dieses realitätsfixierte Land ja wohl noch aushalten.
DIE WELT © Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten
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Ein Sehnsuchtstyp
Jonathan Meese ist wieder da. Warum wir ihn heute mehr denn je brauchen. Eine Würdigung.
Von Boris Pofalla | welt.edition
Alles, was diese Zivilisation produziert, wird früher oder später Abfall: Die Werkschau des Jonathan Meese passt in einen einzigen Raum - Copyright: © Jonathan Meese /VG Bild-Kunst, Bonn 2018/ Jörg Koopmann
Man hatte sich das anders vorgestellt. Eine Werkschau für den von der Kritik traditionell als mythenseligen Provokateur verstandenen Jonathan Meese müsste dunkler und höhlenhafter sein. Wirrer auch. Aber dann steht man in der etwas aseptischen Pinakothek der Moderne in einem seltsam körperlos gewordenen Saal, in den pudriges weißes Licht fällt und dessen Decke wiederum in lauter Quadrate unterteilt ist. Diese Decke sieht aus wie der transluzente Boden des Raums in der letzten Szene von „2001 – Odyssee im Weltraum” von Stanley Kubrick. Das ist schlüssig, denkt man, denn diese Retrospektive heißt ja ebenfalls nach Homers Odyssee.
„Die Irrfahrten des Meese“ kommt mit einem einzigen Saal aus, aber der hat es in sich. Die in zarten bis leuchtenden Farben glühenden Gemälde an den Wänden, die Vitrinen mit den Zeichnungen und die kleinen Plastiken und Assemblagen auf den schmalbeinigen Tischen: All das schwebt in diesem körperlosen Weiß. Man ist hier wie in Watte gepackt. Auch weil der Boden mit Teppich ausgelegt wurde, der selbst wiederum ein Bild von Jonathan Meese ist: ein roter Fleck, aus dem lang gezogene Farbspritzer wie Tentakel in die Weite des Raumes ausgreifen. In der Mitte steht „Zielsetzung Kunst“, von dort streben schwarze Pfeile nach außen, neben denen für Meese wichtige Figuren und Begriffe aufgeführt sind: Conan. Nero. Mumin. Camelot. Zardoz. Caligula. Liebe. Es ist ein Schaubild, es erklärt uns die Welt. Meeses Welt.
Geboren 1970 in Tokio, als Kind umgetopft nach Ahrensburg, studierte der Sohn einer Deutschen und eines Walisers bei Franz Erhard Walther in Hamburg. Ab Ende der 90er-Jahre wurde er mit ausufernden Installationen und aufsehenerregenden Performances bekannt. Seine mit kindlicher Fröhlichkeit betriebene Vermengung von germanischen Sagengestalten, militärischen Symbolen und Popkultur wurde international ausgestellt. Eine Inszenierung des Rings in Bayreuth scheiterte an den Wagners, dafür hat Meese mit seiner Inszenierung des „Mondparsifal“ in Berlin und Wien brilliert. Vor Kurzem ist bei Walter König seine Biografie erschienen. Meese ist berühmt, eine Retrospektive war überfällig. Jetzt ist sie da, präzise kuratiert von Swantje Grundler und Bernhart Schwenk.
Aber muss eine Retrospektive nicht trotzdem viel größer ausfallen? Bemisst sich der Ruhm und die Bedeutung eines Künstlers nicht nach Quadratmetern, die ihm oder ihr in einem wichtigen Kunsthaus freigeräumt werden? Doch, sicher, und deshalb wandert man ja auch so oft durch Museumswüsten, in denen super wichtige Oeuvres ausgebreitet werden wie Argumente in einem niemals endenden Kommunepalaver. Der Geist des Archivs weht derart scharf durch unsere Zeit, dass man den nicht vorhandenen Hut festhalten muss. Dass künstlerische Bedeutung heute vor allem in Mimesis und Addition gesucht werden, beweist der Boom der immer weiter ausufernden Biennalen und Documenta. Noch ein Raum, noch ein aufgelassenes Haus, noch eine Stadt, noch eine Facette der Realität, immer mehr, mehr, mehr. Man will die Wirklichkeit einfangen, die harte unbekannte Welt da draußen, in der es Kriege gibt und Hass und Hunger. Es muss immer mindestens um alles gehen, und zwar gleichzeitig und mit einer ernsten Miene. So viele Podiumsdiskussionen, so viele Ordnungsrufe waren nie. Die Kunstwelt ist, seit Meese in den 90er-Jahren mit seinem Werk begonnen hat, immer kataloghafter und indexikalischer geworden. Sie fühlt sich zunehmend unwohl in ihrer Haut, in dieser weißen, westlichen, privilegierten Haut, aus der sie so gern herauskommen würde, aber nicht kann, denn für den Körpertausch ist man dann doch noch nicht bereit.
Für viele im Kunstbetrieb ist Jonathan Meese über die Jahre zu einer Hassfigur geworden: einer, der sich immer wieder über politisch engagierte Künstler lustig macht; einer, der sich zweimal am Tag in die Badewanne legt und am liebsten sowieso sein Zuhause nicht verlässt (und wenn, dann in Begleitung seiner Mutter). Ein 48-jähriger Mann, dessen lange dunkle Haare nun langsam grau werden und der sich eher zum dreihundertsten Mal „A Clockwork Orange“ oder „The Wicker Man“ ansieht, als den Coltan-Bergbau im Kongo künstlerisch aufzuarbeiten oder mit Solarlampen die Welt zu retten („Realität bringt mir nichts“). Die Kunstkritik in ihrer derzeitigen Verfassung kann das unmöglich gut finden und natürlich tut sie das auch nicht. Der „Spiegel“-Autor Georg Diez musste sich die „Irrfahrten des Meese“ gar nicht erst ansehen, um ihm im Kunstmagazin „Monopol“ zu bescheinigen, er sehe „nur das Deutsche“, reduziere es auf Comicformat und blähe es gleichzeitig auf und verbreitete damit „den scheußlichen Odem, geruchsbefreit“. (Es ist derselbe Kritiker, der 2012 im Schriftsteller Christian Kracht einen totalitären Denker erkannte.) An Jonathan Meese offenbaren sich wie bei keinem anderen die Erwartungen, die im Moment an Künstler gerichtet werden. Die Argumentation geht so: In den 90er-Jahren sei das ja noch ganz lustig gewesen, dieses Herumkramen in den Grabbelkisten von Sagen und Diktaturen. Aber jetzt?
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Jonathan Meese in seiner Ausstellung "Die Irrfahrten des Meese" in der Münchner Pinakothek der Moderne - (Foto: AFP) |
„Jetzt sind nicht nur die Fahnen und Aufmärsche und Rassismus wieder da“, schreibt Catrin Lorch in der „Süddeutschen Zeitung“, „sondern auch das ganze rechte Interesse an Historie, an Geschichtsklitterungen, Umdeutungen, Verleumdungen. Es spricht nicht für das Werk, dass Jonathan Meese da nicht gefragt war, weder als Prominenter noch als Künstler”. Der Wert eines künstlerischen Oeuvres bemisst sich demnach daran, ob es im Diskurs zu Illustrationszwecken von Weltdiagnosen gefragt oder nicht gefragt ist. Wenn das so ist, wozu braucht man dann das künstlerische Feld? Kann man dann nicht gleich Leitartikel an die Wände hängen? Der Freiraum der Kultur, bemängelt Lorch, fühle sich bei Meese an wie eine Resterampe.
Aber wie soll sich Freiheit denn sonst anfühlen, wenn nicht wie eine Resterampe? Bei Meese gibt es nichts, was es nicht gibt, und es kostet nichts. Mit dem Abgelegten, dem Verkannten, dem Skurrilen und Kindlichen, dem Pubertären und Abenteuerlichen, den Humpty-Dumptys und Mumins, Gralsrittern und Aliens ist zwar ein Werk, aber kein Staat zu machen. Meese ist ein großartiger Maler, ein unglaublich einfallsreicher Plastiker (und zwar schon seit 20 Jahren, wie man hier sehen kann). Aber er ist eben nicht Anselm Kiefer: Meese veralbert, statt zu überhöhen. Alles, was diese Zivilisation produziert, wird früher oder später Abfall. Das, was durch die Produktion und Zweitverwertung des Abfalls hindurchpulst, diese überaus menschliche Energie heißt bei Meese „Diktatur der Kunst“. Er vergöttert nicht Nero oder Stalin, sondern schneidert aus ihren Mänteln Uniformen, die ausschließlich auf Bühnen getragen werden sollen. Der Hitlergruß, für den Meese 2013 vor Gericht stand und freigesprochen wurde, war Teil einer Performance. Trotzdem haben Museen ihn danach gemieden.
Wenn wir zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden können, haben wir ein Problem. Die Unbedingtheit, mit der Jonathan Meese auf dem Existenzrecht von Fiktion beharrt, ist wichtiger denn je. Wir sehen, wie das Fantastische und Eigensinnige vom Nützlichen und Korrekten abgelöst wird. Meeses Werk handelt von der Freiheit, sich von den Zumutungen und angeblichen Wichtigkeiten der Gesellschaft freizumachen. Der matten Ödnis von offenen Briefen und gereizten Debatten wird bei Meese der in seiner Lächerlichkeit über sich hinauswachsende Held entgegengesetzt. Er ist ein Eskapist reinsten Wassers. Einen einzigen wird dieses realitätsfixierte Land ja wohl noch aushalten.
- „Die Irrfahrten des Meese“, bis 3. März, Pinakothek der Moderne, München, Katalog 12,80 Euro.
DIE WELT © Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten
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ach - nichts wird so heiß gegessen - wie es gekocht wird ...
zu meinen aktiven "selbsterfahrungs-trips"- und "gruppendynamischen trainings"-epochen etc. pp. seinerzeit hieß ein in dieser scene immer wieder gern gewähltes thema: "entwickele dein inneres kind in dir" ... -
und mit viel psychodynamischem bohei wurde in intensiv-meditativen "reisen ins ich" das "innere kind in einem" aufgesucht - gefunden - und getätschelt und gehätschelt - denn das "innere kind in mir", das wie ich in der direkten nachkriegszeit geboren wurde oder das licht der inneren psyche erblickte (ich bin jahrgang 1947) war wahrscheinlich kein "wunschkind" - und wäre in späteren epochen bei etwas mutigeren und weltoffeneren eltern oder zumindest müttern bestimmt klammheimlich abgetrieben worden - und auch sonst: die sommer waren zu heiß und zu trocken (fast so wie jetzt 70 jahre später: 2018) - und zu beißen gab es nicht viel - und der spätere nuk-baby-beißring war noch nicht erfunden - die trümmer des krieges noch nicht gänzlich beseitigt - und es blühten noch nicht auf allen gräbern und gruften die geranien ...
die eltern waren ängstlich - und meine auf dem lande großgewordene mutter hatte schiss um sich und um mich vor dem mit dem wirtschaftlichen aufschwung nun immer stärker aufkeimenden verkehr auf der durchgangsstraße vor unserer wohnung. entsprechend wurde ich "beschützt" und "gehätschelt" ...- und als jüngster von dreien auch verwöhnt ...
und immer wenn ich von der lebenslangen mutterbindung des jonathan meese lese (* 1970 - könnte also mein sohn sein ...), denke ich mir: der lebt sein "inneres kind in ihm" so richtig und ausgiebig und penetrant aus - und kann vielleicht auch gar nicht anders als selbsterfahrung und selbsttherapie - und krempelt so sein innerstes so-geworden-sein nach außen - mit all den verschütteten bildern von den spiegelneuronen seiner direkten erzeuger und den prägenden lokalwahrnehmungen seiner real-biografischen japanischen geburtsstadt tokio und all den darin verquickten vielleicht auch internationalen vorfahren - deren eltern und großeltern ja selbst noch mittendrin standen in all dem internationalen gedöns zwischen 14-18 und 39-45 in europa ...
jonathan meese hörte davon erst später, als er so um die 20/25 jahre alt - inzwischen geschult und vom englischen in die deutsche sprache ge- und erzogen und eingebläut (die mutter war ja alleinerziehend von tokio nach deutschland zurückgekehrt ...) allmählich erwachte und seine umwelt außerhalb der binnenwelt des "mütterlichen uterus" wahrzunehmen lernen musste - abgenabelt in nochmals einer art realistisch gefühlter und erfahrener sturzgeburt ...
malend machte sich meese nun "seine (traumatische?) welt" zu eigen - be-"schrieb" sie und be-"kritzelte", beschmierte und blamierte sie - und drang allmählich vor - aus seiner ureigensten wahrnehmung in "diese" komplizierte welt ...
es war sicherlich so ähnlich, als wenn irgendein grünes männlein aus dem all hier auf diese olle mutter erde abgesetzt wird ... - und sich hier umschaut - und all die realitäten - aber im laufe der zeit auch all die irrealitäten und mythen und märchen und sagen und helden - erfährt und internalisiert und reflektiert.
und bei all dem kommt dann so etwas raus: etwas, was wie "irrfahrten" anmutet - aber eigentlich nur eine e i g e n - a r t i g e "erkundung" und "forschung" war und ist - und bleiben wird ...
heinrich heine meinte:
heinrich heine meinte:
„alles in der welt endet durch zufall und ermüdung“ ...
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sie wich meinem blick aus
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pool with two figures
"Portrait of an Artist (Pool with two figures)"
Hockney-Gemälde für Rekordpreis von 90 Millionen Dollar versteigert
Ein solcher Preis wurde noch nie für ein Werk eines lebenden Künstlers bezahlt: 90 Millionen Dollar erzielt ein Hockney-Gemälde beim New Yorker Auktionshaus Christie's.
Eine Frau steht vor David Hockneys Gemälde "Portrait of an Artist (Pool with Two Figures)" im Auktionshaus Christie's.FOTO: TIMOTHY A. CLARY/AFP
Bei der Versteigerung eines Kultgemäldes des britischen Malers David Hockney ist ein neuer Rekord für das Werk eines lebenden Künstlers erzielt worden. "Portrait of an Artist (Pool with two figures)" wurde am Donnerstag in New York für rund 90 Millionen Dollar versteigert, wie das Auktionshaus Christie's mitteilte.
Die Auktion verlief rasant: Lag der Einstiegspreis bei 18 Millionen Dollar, überstiegen die Gebote schon nach 30 Sekunden die Marke von 50 Millionen Dollar. Nach rund neun Minuten und einem Wettstreit von zwei per Telefon zugeschalteten Bietern wurde das 1972 entstandene Gemälde, das zwei Männer und einen Swimming-Pool zeigt, dann für 80 Millionen Dollar verkauft. Einschließlich der Auktionsgebühren liegt der Preis bei 90,3 Millionen Dollar (knapp 80 Millionen Euro).
Damit wurde der bisherige Rekordpreis für das Werk eines lebenden Künstlers deutlich übertroffen. Den Rekord hielt bislang die Skulptur "Balloon Dog (Orange)" des US-Künstlers Jeff Koons. Es war 2013 bei einer Auktion in New York für 58,4 Millionen Dollar versteigert worden.
Das Gemälde vereint zwei zentrale Elemente von Hockneys Kunst
"Portrait of an Artist (Pool with two figures)" ist eines der berühmtesten Werke des heute 81-jährigen Hockney und hat Kultstatus. In dem 2,13 mal 3,05 Meter großen Gemälde steht ein elegant gekleideter Mann am Rande eines Swimming-Pools und betrachtet einen Schwimmer, im Hintergrund eine idyllische Berglandschaft.
Bei dem Betrachter handelt es sich um Hockneys früheren Liebhaber Peter Schlesinger, mit dem Hockney zwischen 1966 und 1972 liiert war. Bei dem Schwimmer könnte es sich um einen neuen Liebhaber Schlesingers handeln, sagte Christie's-Experte Alex Rotter.
Das Gemälde nimmt zwei zentrale Elemente von Hockneys Kunst auf: Schwimmbecken und Doppelporträts. Vor der Auktion hatte die Christie's-Verantwortliche Ana Maria Celis gesagt: "Wir können selten sagen: 'Das ist die Gelegenheit, das beste Gemälde eines Künstlers zu kaufen.' Hier ist das so." (AFP)
tagesspiegel
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es gibt verschiedenartige währungen: da gibt es bargeld und bitcoins, ec-card und us-dollars, früher gab es glasperlen oder einfache tauschobjekte, da gibt es scheine und hartgeld, da gibt es aktien und investment-fonds usw usf. - und da gibt es jedes jahr im herbst die öffentliche umwandlung von harter währung in sogenannte "kunstwerke" bei den auktionshäusern wie christie's oder sotheby's u.a.
Hockney-Gemälde für Rekordpreis von 90 Millionen Dollar versteigert
Ein solcher Preis wurde noch nie für ein Werk eines lebenden Künstlers bezahlt: 90 Millionen Dollar erzielt ein Hockney-Gemälde beim New Yorker Auktionshaus Christie's.
Eine Frau steht vor David Hockneys Gemälde "Portrait of an Artist (Pool with Two Figures)" im Auktionshaus Christie's.FOTO: TIMOTHY A. CLARY/AFP
Bei der Versteigerung eines Kultgemäldes des britischen Malers David Hockney ist ein neuer Rekord für das Werk eines lebenden Künstlers erzielt worden. "Portrait of an Artist (Pool with two figures)" wurde am Donnerstag in New York für rund 90 Millionen Dollar versteigert, wie das Auktionshaus Christie's mitteilte.
Die Auktion verlief rasant: Lag der Einstiegspreis bei 18 Millionen Dollar, überstiegen die Gebote schon nach 30 Sekunden die Marke von 50 Millionen Dollar. Nach rund neun Minuten und einem Wettstreit von zwei per Telefon zugeschalteten Bietern wurde das 1972 entstandene Gemälde, das zwei Männer und einen Swimming-Pool zeigt, dann für 80 Millionen Dollar verkauft. Einschließlich der Auktionsgebühren liegt der Preis bei 90,3 Millionen Dollar (knapp 80 Millionen Euro).
Damit wurde der bisherige Rekordpreis für das Werk eines lebenden Künstlers deutlich übertroffen. Den Rekord hielt bislang die Skulptur "Balloon Dog (Orange)" des US-Künstlers Jeff Koons. Es war 2013 bei einer Auktion in New York für 58,4 Millionen Dollar versteigert worden.
Das Gemälde vereint zwei zentrale Elemente von Hockneys Kunst
"Portrait of an Artist (Pool with two figures)" ist eines der berühmtesten Werke des heute 81-jährigen Hockney und hat Kultstatus. In dem 2,13 mal 3,05 Meter großen Gemälde steht ein elegant gekleideter Mann am Rande eines Swimming-Pools und betrachtet einen Schwimmer, im Hintergrund eine idyllische Berglandschaft.
Bei dem Betrachter handelt es sich um Hockneys früheren Liebhaber Peter Schlesinger, mit dem Hockney zwischen 1966 und 1972 liiert war. Bei dem Schwimmer könnte es sich um einen neuen Liebhaber Schlesingers handeln, sagte Christie's-Experte Alex Rotter.
Das Gemälde nimmt zwei zentrale Elemente von Hockneys Kunst auf: Schwimmbecken und Doppelporträts. Vor der Auktion hatte die Christie's-Verantwortliche Ana Maria Celis gesagt: "Wir können selten sagen: 'Das ist die Gelegenheit, das beste Gemälde eines Künstlers zu kaufen.' Hier ist das so." (AFP)
tagesspiegel
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auch eine art realistisch-kapitalistischer kunstbetrachtung:

also: viele kleine scheine mit verschiedenen wertaufdrucken generieren zu einer mit ölfarbe bepinselten leinwand von 2.13 zu 3.05 metern ...: meist sind die kulturredakteure der großen medienhäuser mitten im publikum zugegen und die kameras blitzen und surren und die i-phones sind gezückt - und meist wird mit dem schließlichen kunstkäufer bzw. "geldwechsler" anonym am telefon verhandelt, wo der seine gebote mittels mittelsmänner oder agenturen abgibt.
wenn nun ein grünes männlein aus dem weiten weltall dieses prozedere beobachten würde - würde es sich wahrscheinlich total verwundern über solch eigenartige inflationäre eintauschaktionen - wobei ja eben kein fester "wechselkurs" vorherbestimmt ist - sondern das geschieht quasi in einem "sportlichen wettbewerb" mit anderen mitbietern - die - so wird vermutet - aber auch oft vom auktionshaus "angemietet" sind, um den preis auch ordentlich in die höhe zu treiben.
der eigentliche materialwert dieser 2.13 x 3.05-leinwand mit ölfarbenbelag beläuft sich auf vielleicht ca. 350 - 500 €uro - und der erzielte tauschwert von ca. 87 millionen €uro ist also ein fiktiver "künstlerischer" wert - so meint man - doch oft verstaut der käufer das "kunstwerk" nach lieferung in einen gesicherten und gepanzerten aufbewahrungsplatz in irgendeiner bank - und ... wartet ...und ... wartet
wartet ein, zwei, drei, vier, fünf oder acht jahre, bis er dann das gute stück weltkunst erneut zur auktion anbietet, damit es - vielleicht nach dem tod des künstlers - eine gute wertsteigerung erbringt - vielleicht mit einem erlös von 125 millionen ... - 38-40 millionen vielleicht in 4-5 jahren rendite, das ist dann ein guter zinsertrag - und das kunstwerk wird zu einer schnöden währung in gewisser weise auch wieder "abgewertet" - zu einer aktie - einer gewinnbringende spekulier-geldanlage - mehr nicht:
der künstlerische "wert" ist somit also völlige nebensache - und auch der inhalt und die intention der arbeit und die spannungen und problemlösungen des künstlers bei der erstellung spielen keine rolle mehr ... - vielleicht noch die signatur unter dem gemälde, die für eine besondere "wertschöpfung" gut ist ...
der schnöde kapitalismus besiegt die kunst und die kultur und degradiert sie ... - und alle machen dabei mit ...
- merke also: die auktionshäuser haben mit "kunst" und "kultur" eher weniger zu tun - sie sind eher ein ableger der börse und reine spekulationshäuser ...
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THE KID: "hinter allem erlesenen liegt etwas tragisches"
photo from: https://www.thekid.fr/
mir ist danach, heute den jungen künstler "the kid" vorzustellen, den ich im arte-"metropolis" gerade entdeckt habe:
THE KID - das sind: tätowierte Oberkörper, blutunterlaufene Augen, Waffe in der Hand.
Die Jugend, die THE KID porträtiert, kennt er so gut, weil er selbst in Amerika aufgewachsen ist. Mit nur 28 ist er bereits ein vielversprechender Künstler der Gegenwart. Kurz nach den US-Kongresswahlen treffen wir THE KID in seinem Atelier bei Paris und sprechen über sein politisches Engagement.
THE KID (*1991) ist ein autodidaktischer zeitgenössischer Künstler mit niederländischen und brasilianischen Wurzeln, der in Amerika aufwuchs - und der seit seiner frühen Jugendzeit unruhig den Begriff der unentrinnbaren sozialen Prägung und die dünne Grenze zwischen Unschuld und Korruption in seinen Werken in Frage stellt.
Auf die Frage, warum er sich dafür entschieden hat, seine persönliche Ästhetik und seine verschiedenen Techniken in den Dienst dieser sozialen Fragen zu stellen, zitiert THE KID gern Oscar Wilde
"Hinter allem Erlesenen in der Welt lag etwas Tragisches"
Oscar Wilde in "Das Bildnis des Dorian Gray" :
Das ist es, was alle seine Figuren auf den Zeichnungen, Gemälden und in den fotorealistischen Riesenskulpturen und Installationen gemeinsam haben - hinter ihrer Jugend und Schönheit verbirgt sich eine tragische Geschichte - wie eine Blume, die später verblüht und verblasst. Sein Ziel ist es, sie "in ihren entscheidenden Biografie-Momenten festzuhalten, für immer gefangen zwischen Unschuld und Korruption".
THE KID ist ein engagierter Aktivist und Unterstützer der Internationalen Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch, die die Menschenrechte weltweit verteidigt, insbesondere im Kampf gegen soziale Diskriminierung und unmenschliche Gerechtigkeit.
photo from: https://www.thekid.fr/
- click here: https://www.thekid.fr/
- & here: https://www.youtube.com/c/thekidcontemporaryartist
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NEUE AUSSTELLUNG ANNE FRANK ZENTRUM BERLIN
LERNEN AUS DER VERGANGENHEIT
DIE NEUE AUSSTELLUNG IM ANNE FRANK ZENTRUM BERLIN
„Jugendliche müssen wissen, was damals passiert ist“
Eva Schloss hat Auschwitz überlebt, Otto Frank war ihr Stiefvater. Heute engagiert sie sich als Zeitzeugin gegen das Vergessen. Ein Gespräch
Es war am Tag ihres 15. Geburtstags am 11. Mai 1944, als Eva Schloss, die damals Eva Geiringer hieß, und ihre Familie von der Gestapo in Amsterdam verhaftet wurden. Sie, ihre Eltern und ihr Bruder Heinz wurden wenig später nach Auschwitz deportiert. Zwei Jahre hatte sich die jüdische Familie in Amsterdam versteckt. Dann wurden sie verraten. Bevor sie untertauchen mussten, wohnten die Geiringers am Merwedeplein, dort lebte auch Anne Frank mit ihrer Familie. Die beiden Mädchen spielten gelegentlich miteinander. Eva und ihre Mutter überlebten, ihr Vater und ihr Bruder Heinz kamen bei einem Todesmarsch ums Leben. Nach dem Krieg heiratete Evas Mutter Otto Frank, den Vater von Anne Frank. Anne und ihre Schwester Margot starben im Konzentrationslager Bergen-Belsen, ihre Mutter Edith Frank in Auschwitz.
Eva Schloss lebt in London. Zur Eröffnung der Ausstellung „Alles über Anne“ im Anne Frank Zentrum ist sie nach Berlin gekommen. Für den Tagesspiegel nahm sich die 89-Jährige Zeit für ein Gespräch.
Frau Schloss, Sie sprechen auf der ganzen Welt über Ihre Erlebnisse, vor allem vor Schülern. Gerade waren Sie deshalb sechs Wochen in den USA. Wissen die jungen Menschen viel über die Geschichte?
Fast alle wissen ein bisschen was, aber nicht alles, nicht die Details. Bei einem meiner Vorträge war ein junges Mädchen, das weinte sehr. Ich fragte sie, ob sie Familie verloren habe. Sie verneinte und sagte, dass sie Deutsche sei, eine Austauschschülerin, und dass sie sich so schuldig fühle. Ich sagte ihr, dass es doch nichts mit ihr zu tun habe, sie war ja noch gar nicht auf der Welt, nicht einmal ihre Eltern. Aber sie war ganz erschüttert und sagte, sie hätte zwar in Deutschland etwas über den Holocaust gelernt, aber nie in solchem Maße die Einzelheiten gehört.
Was wollen Sie den Schülern mitgeben?
Ich will, dass sie wissen, was passiert ist. Ich bin sehr beschäftigt, denn es gibt ja nicht mehr so viele Überlebende. Man sollte meinen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben, aber es gibt immer noch so viele Kriege, Diskriminierung und Rassismus. Wir müssen aufmerksam bleiben, was um uns herum geschieht. Es besorgt mich, wie mit Flüchtlingen umgegangen wird. Ich war ja selbst ein Flüchtling. Deshalb habe ich großen Respekt für Angela Merkel, ich finde, sie hat etwas Wunderbares getan.
Sie sind Otto Franks Stieftochter und werden deshalb oft auf Anne angesprochen.
Ja, die Leute wollen immer von mir wissen, wie sie war und was sie gemacht hat. Sie war ein ganz normales Mädchen. Sie war eins von den vielen Kindern, mit denen ich gespielt habe. Ich war damals sehr schüchtern. Ich hatte schon in Österreich Antisemitismus und Ausgrenzung erfahren. Annes Familie war schon 1933 aus Deutschland emigriert, Anne hatte den Antisemitismus in Deutschland nicht bewusst miterlebt. Sie war viel unbeschwerter und glücklicher als ich. In gewisser Weise bewunderte ich sie, dass sie so frei und sorglos war.
Ihre Geschichte weist sehr viele Parallelen zu der Annes auf. Sie sind fast gleich alt, auch Sie mussten zwei Jahre in Verstecken leben und wurden dann deportiert. Wie haben Sie die Zeit im Versteck erlebt?
Ich war 13, und es war sehr hart für mich. Es fiel mir schwer, im Versteck den ganzen Tag still zu sitzen. Ich war sportlich und las damals nicht so gern. Wir waren in getrennten Verstecken, meine Mutter und ich in einer Wohnung, mein Bruder und mein Vater woanders. Weil es mir so schlecht ging, vereinbarten meine Eltern, die ab und zu telefonieren konnten, dass wir uns manchmal besuchen sollten. Das war gefährlich, aber so verbrachten wir hin und wieder ein Wochenende zusammen. Das waren meine einzigen Lichtblicke. Im Versteck der Franks waren sie dagegen zu acht. Da war immer was los. Es gab zwar auch Streitereien, aber es war nicht so langweilig. Und Anne war schon damals der Liebling ihres Vaters. Natürlich war es auch für die Franks schrecklich, aber in gewisser Weise glaube ich, dass Anne es im Versteck leichter hatte als ich.
Bis 1938 lebten Sie in Österreich. Kurz nachdem die Nazis an die Macht kamen, erlebten Sie dort Antisemitismus. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Es war unglaublich, wie schnell sich die Einstellung der Leute zu den Juden änderte. Von einem Tag auf den anderen. Mein Bruder wurde von seinen Freunden geschlagen. Mein Mann, der aus Ingolstadt kam, wurde in der Schule die Treppe heruntergestoßen. Sein Vater war Arzt, die Familie sehr beliebt. Der Vater sagte, die Leute lieben uns, sie werden uns nichts tun. Aber so war es nicht. Die Menschen veränderten sich sofort, als die Nazis ihnen sagten, dass sie die Juden hassen sollten.
An Ihrem 15. Geburtstag wurden Sie von der Gestapo verhaftet und kamen dann ins Durchgangslager Westerbork. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Ich stand unter Schock, ich war verhört und geschlagen worden, und wir fürchteten um unser Leben. Ich habe kürzlich herausgefunden, dass ich zehn Tage in Westerbork war. Ich dachte immer, es sei nur ein Tag gewesen. Ich habe die Erinnerung daran komplett ausgeblendet.
Dann wurden Sie deportiert.
Wir dachten, das sei unser Ende, und wir konnten nichts dagegen tun. Die meisten wurden ja in Auschwitz direkt nach der Ankunft umgebracht. Es half mir sehr, dass meine Mutter bei mir war. Aber eines Tages wurde sie doch von Mengele selektiert, und ich dachte, ich sehe sie nie wieder. Das war der furchtbarste Moment für mich. Im letzten Moment wurde sie doch noch gerettet, wir fanden uns kurz vor der Befreiung sogar wieder.
Gab es irgendeine Form von Menschlichkeit oder Mitleid im Lager?
Ich werde oft gefragt, ob die Häftlinge sich halfen oder sich mit Namen kannten. Aber man kannte niemanden, nur die sechs oder acht Personen, die auf der gleichen Pritsche schliefen. Am Anfang halfen sich die Leute noch ein bisschen, aber später konnte sich jeder nur noch um sich selbst kümmern. Manche stahlen Brot von anderen, um zu überleben. Das war Teil des Systems: uns zu entmenschlichen, dass wir wie Tiere werden. Manche Überlebende erinnern sich an Momente, in denen Aufseher ein wenig Menschlichkeit zeigten, aber ich habe nichts dergleichen erlebt.
Sie waren erst 15 Jahre alt. Wie schafften Sie es, durchzuhalten?
Dass ich überlebt habe, grenzt an ein Wunder, es gab viele glückliche Zufälle. Ich sah sogar meinen Vater wieder, er hatte es in diesem riesigen Lager geschafft, mich zu finden. Damals dachte ich, dass meine Mutter tot sei. Ich sagte ihm, dass sie selektiert worden sei. Das macht mir noch heute Schuldgefühle, obwohl ich nichts dafür kann. Aber vielleicht hat ihm das den Lebensmut genommen hat, vor allem, als dann mein Bruder auf dem Todesmarsch starb. Die einzige Chance zum Überleben war, dass man nicht aufgab. In gewisser Weise war ich in der Zeit nach Auschwitz deprimierter als dort. Denn dort musste ich einfach durchhalten. Danach kam mir das Leben sinnlos vor. Mein Bruder und mein Vater waren tot, meiner Mutter ging es auch schlecht. Ich dachte über Suizid nach.
Wer hat Ihnen in der Zeit geholfen?
Otto Frank half mir sehr. Er kam oft bei uns vorbei. Er hatte alles verloren, seine Töchter und seine Frau. Und dennoch hasste er niemanden, nicht einmal die Deutschen. Er sagte, er sei selbst Deutscher und sogar stolz darauf, er liebte die deutsche Kultur. Ich dagegen hasste die Deutschen und die ganze Welt, denn niemand hatte uns geholfen, obwohl es möglich gewesen wäre. Wir hatten ein sehr gutes Verhältnis, er war später ein wunderbarer Großvater für meine Töchter.
- Das Gespräch führte Sylvia Vogt.
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Eva Schloss - Foto: Cris Toala Olivares/ AFH Amsterdam |
- Eva Schloss hat über ihre Erlebnisse drei Bücher geschrieben, auf Deutsch erschienen „Evas Geschichte“ und „Amsterdam, 11. Mai 1944. Das Ende meiner Kindheit“. Am Dienstagabend veranstaltet das Anne Frank Zentrum mit ihr ein Zeitzeugengespräch. Die Veranstaltung ist ausgebucht.
„O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben. (...) Ich will fortleben, auch nach meinem Tod“ , schrieb Anne im April 1944 in ihr Tagebuch. Im Anne Frank Zentrum in der Rosenthaler Straße 39 in Berlin-Mitte hat am Montag die neue Ausstellung „Alles über Anne“ eröffnet. Sie richtet sich zwar besonders an Kinder und Jugendliche - ab etwa zehn Jahren -, bietet aber auch Erwachsenen völlig neue Einblicke. Foto: Doris Spiekermann-Klaas
DER TAGESSPIEGEL, Dienstag, 20.November 2018, Nr. 23656, S. 19 - "Berlin Lernen"
"O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben. (...) Ich will fortleben, auch nach meinem Tod", schrieb anne frank in ihr tagebuch: und da geht es um ihre einzel-opferbiografie. es ist zum größtenteils heutzutage so, wie es das deutsche mädchen oben im interview gesagt hat: sie hätte zwar in deutschland etwas über den holocaust gelernt, aber nie in solchem maße die einzelheiten gehört.
das ist ja die crux beim auswendiglernen von geschichtsfakten und geschichtszahlen: da lernt man: 6 millionen juden wurden in der shoah umgebracht - oder: ca. 300.000 menschen waren opfer der nazi-"euthanasie"-mordaktionen ...
das sind sicherlich schreckliche zahlen - aber sie gehen über die einzelbiografien dahin - und decken sie zu.
um tatsächlich nachzuvollziehen und zu 'erfahren', was diese unvorstellbaren opferzahlen an tatsächlichem einzelleid beinhalten, muss man sich schon die mühe machen, einzelbiografien zu studieren und zu durch'leben': das gelingt dann ansatzweise bei einzelnen mit dem besuch einer solchen neuen ausstellung zur opferbiografie von anne frank jetzt in berlin - aber auch die 70.000 bereits gelegten "stolpersteine" sind ein erster wegzeig, die darauf verweisen: da kann man dann mit dem smartphone mal rasch ein foto machen - und dann mit dem entdeckten namen weiterrecherchieren: wer lebte dort, wie sah dieser mensch aus, was hat er erlitten??? - und auch: was haben die großeltern und die altvorderen in der eigenen familie damals davon mitbekommen - oder wo und wie waren sie vielleicht auch mit involviert ???
dann wird die tatsächliche "geschichte", die sich ja im laufe der generationen schicht auf schicht als "geschichtetes" in uns ablegt und aufschichtet - dann wird "ge-schichte" lebendig und drängt in die wahrnehmung und profilierung:
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smog
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ja - das ist die flexibility
Parteien in Deutschland
Was kommt nach den Volksparteien?
Wir müssen uns vom alten Rechts-Links-Antagonismus lösen. Ein Plädoyer für eine dreidimensionale Zukunftspolitik.
Ein Gastbeitrag von DANIEL DETTLING | TAGESSPIEGEL
Der Trend verläuft still und stetig: Den Volksparteien kommt das Volk abhanden. Brachten es CDU, CSU und SPD vor 60 Jahren zusammen noch auf 90 Prozent und vor 20 Jahren auf immerhin noch zwei Drittel, kommen die drei Parteien heute auf weniger als 50 Prozent der Stimmen. Bei der Landtagswahl in Bayern erzielte die CSU ihr zweitschlechtestes Ergebnis im Freistaat, die SPD mit unter 10 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Wahl in Westdeutschland. Die schlechte Nachricht für die Volksparteien: Ein Ende der Schrumpfung ist nicht abzusehen. Europaweit geht der Trend Richtung 20 Prozent. Die gute Nachricht will (noch) keiner in den Parteien hören: Das Modell der Volkspartei ist nicht mehr zeitgemäß, weil sich die Zeiten geändert haben.
Jenseits von links und rechts, konservativ und progressiv
Die Zeit der gesellschaftlichen Großkonflikte ist vorbei. Der Dualismus von Arbeit versus Kapital, Kirche versus Staat, Mann versus Frau ist aufgehoben und abgelöst worden durch neue Konflikte und Spaltungen: zwischen Wissens- und Industriearbeiter, Land- und Stadtbevölkerung, Einheimische und Zugewanderte, erfolgreiche Frauen und statusängstliche Männer. Wenn die großen Konflikte die Gesellschaft nicht mehr spalten, macht die klassische Unterscheidung von links und rechts, konservativ und progressiv immer weniger Sinn. Stattdessen geht es um eine Politik von Maß und Mitte, welche die unterschiedlichen Milieus und Meinungen nicht weiter spaltet, sondern sie zu versöhnen versucht.
Die CSU hat diesen Spagat zwischen Tradition und Moderne, konservativ und progressiv, lange verstanden. Bei ihrem Slogan „Laptop und Lederhose“ ist das „Und“ entscheidend: die Verbindung von Tradition und Innovation, Heimat und Weltoffenheit. Beides gehört gleichberechtigt zusammen, das Bewahren wie das Transformieren, die Schöpfung und die Zukunft, die Ökologie und die Ökonomie. Die CSU hat sich zuletzt für einen eindimensionalen, aggressiven und anmaßenden Konservatismus entschieden, der die Gegensätze und Widersprüche von Erhalten und Gestalten nicht verbindet, sondern gegeneinander ausspielt. Gestärkt hat sie mit ihrer Politik des „Entweder-Oder“ die Freien Wähler und die Grünen.
„Ökologie plus Ökonomie“ ist die soziale Frage der Zukunft
Von den Grünen können die geschrumpften Volksparteien vor allem lernen, dass sozialer Zusammenhalt und ökologische Zukunftspolitik die Kehrseiten einer Medaille sind. Statt sich im Kleinklein von Diesel-Affäre und Fahrverboten zu verhaken, geht es um die Neuerfindung des Automobils und des öffentlichen Nahverkehrs hin zu einer emissionsfreien, sicheren und bequemen Mobilität. „Ökologie plus Ökonomie“ ist die soziale Frage der Zukunft. Antworten auf die großen Zukunftsfragen haben CDU, CSU und SPD zu wenige. Daher ist in der politischen Mitte ein Vakuum entstanden, das die anderen Parteien füllen. Die Grünen schneiden auch deshalb aktuell am besten ab, weil sie die unpopulistischste Partei sind. Bei Stil und Sprache unterscheiden sich die Grünen mit Abstand am meisten, wenn es um die Auseinandersetzung mit der AfD geht. Wer, wie CSU, FDP und Teile der SPD, versucht AfD-Wähler zu überzeugen, verliert eigene Wähler.
Den Wettbewerb der Reaktionäre können demokratische Parteien nur verlieren. Für den amerikanischen Ideenhistoriker Mark Lilla („Der Glanz der Vergangenheit“) von der Columbia University zählen zu den Reaktionären nicht nur Nationalisten, Populisten und Islamisten, sondern auch Tiefenökologen, Anti-Globalisierer und Anti-Wachstums-Aktivisten. Was sie verbindet ist die Systemkritik am liberal-demokratisch-kapitalistischen Status quo. Ihr reaktionäres Muster ist das aller guten Märchen: „Früher war alles besser!“ Einst war die Welt in Ordnung und harmonisch und jetzt ist sie in Unordnung. Wahlweise werden Eliten oder einzelne Personen verantwortlich für den Niedergang gemacht. Für die rechten Nationalisten zerstörte Angela Merkel mit ihrer Willkommenspolitik der offenen Grenzen die konservative Ordnung, für die linken Nationalisten war es Gerhard Schröder mit den „neoliberalen Agenda-Reformen“, der die linke Ordnung beseitigte. Was die alten und neuen Reaktionäre verbindet, schreibt Lilla, ist die Militanz ihrer Nostalgie. Statt Wandel und Veränderungen positiv zu betrachten, sehen Reaktionäre in ihnen nur Verfall und Niedergang.
Zukunftspolitik ist dreidimensional
Statt des alten Rechts-Links Antagonismus und einer eindimensionalen Politik geht es künftig um eine dreidimensionale Politik, die sich vom klassischen Dualismus löst: Freiheit oder Sicherheit, Staat oder Markt, Weltoffenheit oder Geschlossenheit. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann entwirft in seinem vor wenigen Tagen erschienenen Band „Worauf wir uns verlassen wollen“ für eine „Politik des Und“: Ökonomie und Ökologie, Zusammenhalt und Vielfalt, Fortschritt und Humanität, Nation und Europa, wirtschaftliche Dynamik und sozialer Ausgleich, Sicherheit und Freiheit, Humanität und Ordnung. Antworten werden die Parteien auf diese Herausforderungen nicht mit einer geschlossenen Ideologie finden, sondern mit einer Politik des reflexiven Pragmatismus und einer Haltung der Zuversicht und des Zukunftsoptimismus.
Gesellschaftliche Herausforderungen und Probleme werden in Zukunft nicht über Gegnerschaften, sondern über Lösungen definiert. Ihre drei Gebote heißen Gelassenheit, Tonalität und Zuversicht. Politische Gelassenheit meint eine Abrüstung der ideologischen Polemik, wie sie heute die politischen Debatten beherrscht, und eine Haltung, sich nicht irremachen zu lassen. Nicht der Populismus ist gefährlich, sondern die Angst vor ihm. Die Tonalität ist eine moderate und moderierende. Und es geht um eine Sprache der emotionalen Zuversicht und Härte in der Sache. Dafür braucht es Politiker mit einer Vision, die über den nächsten Tag hinausgeht.
Demokratie braucht Parteien, möglichst breite und integrative. Die „Volksparteien“ haben nur als „Bewegungsparteien“ eine Zukunft. Sie müssen sich den wirklichen Fragen stellen und sich stärker öffnen gegenüber jenen, die sich von ihnen immer weniger repräsentiert fühlen: junge Menschen, Frauen, Unternehmer und Menschen mit einer Migrationsgeschichte. Der Kopf ist rund, damit das Denken ab und an die Richtung wechseln kann. „Mehr Bewegung und Vielfalt wagen“ heißt das Motto für bessere Zeiten. Die Gesellschaft ist längst in Bewegung und weiter, die Volksparteien müssen jetzt folgen.
die gesellschaft mag ja in bewegung sein - "und die parteien müssen darin folgen" ... und doch: es kommt auf die einzelnen "köpfe" an, die zwar "rund" sind, aber das "denken" wechselt längst noch nicht bei allen "ab und an die richtung" ...
ideologen z.b. schauen unverwandt immer in die gleiche richtung - und bekommen genickstarre ...
Was kommt nach den Volksparteien?
Wir müssen uns vom alten Rechts-Links-Antagonismus lösen. Ein Plädoyer für eine dreidimensionale Zukunftspolitik.
Ein Gastbeitrag von DANIEL DETTLING | TAGESSPIEGEL
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Das Modell der Volkspartei ist nicht mehr zeitgemäß. FOTO: THOMAS REIMER |
Der Trend verläuft still und stetig: Den Volksparteien kommt das Volk abhanden. Brachten es CDU, CSU und SPD vor 60 Jahren zusammen noch auf 90 Prozent und vor 20 Jahren auf immerhin noch zwei Drittel, kommen die drei Parteien heute auf weniger als 50 Prozent der Stimmen. Bei der Landtagswahl in Bayern erzielte die CSU ihr zweitschlechtestes Ergebnis im Freistaat, die SPD mit unter 10 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Wahl in Westdeutschland. Die schlechte Nachricht für die Volksparteien: Ein Ende der Schrumpfung ist nicht abzusehen. Europaweit geht der Trend Richtung 20 Prozent. Die gute Nachricht will (noch) keiner in den Parteien hören: Das Modell der Volkspartei ist nicht mehr zeitgemäß, weil sich die Zeiten geändert haben.
Jenseits von links und rechts, konservativ und progressiv
Die Zeit der gesellschaftlichen Großkonflikte ist vorbei. Der Dualismus von Arbeit versus Kapital, Kirche versus Staat, Mann versus Frau ist aufgehoben und abgelöst worden durch neue Konflikte und Spaltungen: zwischen Wissens- und Industriearbeiter, Land- und Stadtbevölkerung, Einheimische und Zugewanderte, erfolgreiche Frauen und statusängstliche Männer. Wenn die großen Konflikte die Gesellschaft nicht mehr spalten, macht die klassische Unterscheidung von links und rechts, konservativ und progressiv immer weniger Sinn. Stattdessen geht es um eine Politik von Maß und Mitte, welche die unterschiedlichen Milieus und Meinungen nicht weiter spaltet, sondern sie zu versöhnen versucht.
Die CSU hat diesen Spagat zwischen Tradition und Moderne, konservativ und progressiv, lange verstanden. Bei ihrem Slogan „Laptop und Lederhose“ ist das „Und“ entscheidend: die Verbindung von Tradition und Innovation, Heimat und Weltoffenheit. Beides gehört gleichberechtigt zusammen, das Bewahren wie das Transformieren, die Schöpfung und die Zukunft, die Ökologie und die Ökonomie. Die CSU hat sich zuletzt für einen eindimensionalen, aggressiven und anmaßenden Konservatismus entschieden, der die Gegensätze und Widersprüche von Erhalten und Gestalten nicht verbindet, sondern gegeneinander ausspielt. Gestärkt hat sie mit ihrer Politik des „Entweder-Oder“ die Freien Wähler und die Grünen.
„Ökologie plus Ökonomie“ ist die soziale Frage der Zukunft
Von den Grünen können die geschrumpften Volksparteien vor allem lernen, dass sozialer Zusammenhalt und ökologische Zukunftspolitik die Kehrseiten einer Medaille sind. Statt sich im Kleinklein von Diesel-Affäre und Fahrverboten zu verhaken, geht es um die Neuerfindung des Automobils und des öffentlichen Nahverkehrs hin zu einer emissionsfreien, sicheren und bequemen Mobilität. „Ökologie plus Ökonomie“ ist die soziale Frage der Zukunft. Antworten auf die großen Zukunftsfragen haben CDU, CSU und SPD zu wenige. Daher ist in der politischen Mitte ein Vakuum entstanden, das die anderen Parteien füllen. Die Grünen schneiden auch deshalb aktuell am besten ab, weil sie die unpopulistischste Partei sind. Bei Stil und Sprache unterscheiden sich die Grünen mit Abstand am meisten, wenn es um die Auseinandersetzung mit der AfD geht. Wer, wie CSU, FDP und Teile der SPD, versucht AfD-Wähler zu überzeugen, verliert eigene Wähler.
Den Wettbewerb der Reaktionäre können demokratische Parteien nur verlieren. Für den amerikanischen Ideenhistoriker Mark Lilla („Der Glanz der Vergangenheit“) von der Columbia University zählen zu den Reaktionären nicht nur Nationalisten, Populisten und Islamisten, sondern auch Tiefenökologen, Anti-Globalisierer und Anti-Wachstums-Aktivisten. Was sie verbindet ist die Systemkritik am liberal-demokratisch-kapitalistischen Status quo. Ihr reaktionäres Muster ist das aller guten Märchen: „Früher war alles besser!“ Einst war die Welt in Ordnung und harmonisch und jetzt ist sie in Unordnung. Wahlweise werden Eliten oder einzelne Personen verantwortlich für den Niedergang gemacht. Für die rechten Nationalisten zerstörte Angela Merkel mit ihrer Willkommenspolitik der offenen Grenzen die konservative Ordnung, für die linken Nationalisten war es Gerhard Schröder mit den „neoliberalen Agenda-Reformen“, der die linke Ordnung beseitigte. Was die alten und neuen Reaktionäre verbindet, schreibt Lilla, ist die Militanz ihrer Nostalgie. Statt Wandel und Veränderungen positiv zu betrachten, sehen Reaktionäre in ihnen nur Verfall und Niedergang.
Zukunftspolitik ist dreidimensional
Statt des alten Rechts-Links Antagonismus und einer eindimensionalen Politik geht es künftig um eine dreidimensionale Politik, die sich vom klassischen Dualismus löst: Freiheit oder Sicherheit, Staat oder Markt, Weltoffenheit oder Geschlossenheit. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann entwirft in seinem vor wenigen Tagen erschienenen Band „Worauf wir uns verlassen wollen“ für eine „Politik des Und“: Ökonomie und Ökologie, Zusammenhalt und Vielfalt, Fortschritt und Humanität, Nation und Europa, wirtschaftliche Dynamik und sozialer Ausgleich, Sicherheit und Freiheit, Humanität und Ordnung. Antworten werden die Parteien auf diese Herausforderungen nicht mit einer geschlossenen Ideologie finden, sondern mit einer Politik des reflexiven Pragmatismus und einer Haltung der Zuversicht und des Zukunftsoptimismus.
Gesellschaftliche Herausforderungen und Probleme werden in Zukunft nicht über Gegnerschaften, sondern über Lösungen definiert. Ihre drei Gebote heißen Gelassenheit, Tonalität und Zuversicht. Politische Gelassenheit meint eine Abrüstung der ideologischen Polemik, wie sie heute die politischen Debatten beherrscht, und eine Haltung, sich nicht irremachen zu lassen. Nicht der Populismus ist gefährlich, sondern die Angst vor ihm. Die Tonalität ist eine moderate und moderierende. Und es geht um eine Sprache der emotionalen Zuversicht und Härte in der Sache. Dafür braucht es Politiker mit einer Vision, die über den nächsten Tag hinausgeht.
Demokratie braucht Parteien, möglichst breite und integrative. Die „Volksparteien“ haben nur als „Bewegungsparteien“ eine Zukunft. Sie müssen sich den wirklichen Fragen stellen und sich stärker öffnen gegenüber jenen, die sich von ihnen immer weniger repräsentiert fühlen: junge Menschen, Frauen, Unternehmer und Menschen mit einer Migrationsgeschichte. Der Kopf ist rund, damit das Denken ab und an die Richtung wechseln kann. „Mehr Bewegung und Vielfalt wagen“ heißt das Motto für bessere Zeiten. Die Gesellschaft ist längst in Bewegung und weiter, die Volksparteien müssen jetzt folgen.
- Dr. Daniel Dettling ist Zukunftsforscher und leitet das Berliner Büro des Zukunftsinstituts (www.zukunftsinstitut.de). Zuletzt von ihm erschien: „Wie wollen wir in Zukunft leben? Eine Agenda für die Neo-Republik“.

ideologen z.b. schauen unverwandt immer in die gleiche richtung - und bekommen genickstarre ...
ich habe schon vor ein paar jahrzehnten in einem kurs zur "mediation" gelernt, dass es die "neutrale"überparteilichkeit gar nicht geben kann - weil wir ja alle menschen mit eben diesem "runden kopf" sind, sondern allenfalls eine "all-parteilichkeit" - heißt: so flexibel sein, dass man sich in die eine denkweise hineindenken kann - um dann in die denkweise des kontrahenten zu schlüpfen ... einfach - um nachzuvollziehen: wie "ticken" die - was sind ihre jeweiligen beweggründe für ihre jeweiligen "richtungen" ... - und das nennt man dann "flexibilität" - aber das heißt nicht: "wendehals", heute so und morgen so - sondern dazu bedarf es eines festen "charakterlichen" kerns, der sich aus dem speist, was wir gemeinhin unser "gewissen" nennen, unser in uns verortetes navi, das anzeigt: "richtig" - und "falsch" - und uns beim "navigieren" im täglichen sosein jeweils die richtung angibt - und sich auch vor kleinen unbefestigten strecken nicht scheut, wenn es sein muss ...
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da passt ja auch der alte karnevalssong der "bläck fööss": links eröm un rächs eröm üvver desch un bänk un stöhl. links eröm un rächs eröm, jeder föhlt sich wohl he en dem jewöhl. |
dieses eingebaute "navi" ist quasi unsere "letzte instanz" - unser innerer "bundesgerichtshof", der alles mit der "verfassung" und dem "grundgesetz" abgleicht: eben "links eröm un rächs eröm, jeder föhlt sich wohl he en dem jewöhl." = "jeder fühlt sich wohl in dem gewühl" unseres da- und hierseins.
so allmählich begreifen alle, was das "agenda-denken" von schröder eigentlich war - und worin sich ihm bis heute seine partei aber auch die strammen wähler dieser partei nicht folgen konnten und können - und was die merkel aus der cdu zumindest gemacht hat, in der sie das verkrustete denken in der pur-"rechten hemisphere" aufbrach.
der alte und eherne strauß-spruch mit "rechts von der csu (cdu) darf es keine demokratisch legitimierte partei geben"war für die bundeskanzlerin noch nie ein gesetz, eben weil ihr kopf einfach runder war als der von strauß - und für seehofer war das ein strauß'sches ewiges vermächtnis, was zu befolgen war, bis zur bitteren neige bei der letzten landtagswahl in bayern - was ihm jetzt auch sein politisches genick bricht: "führer befiehl - wir folgen" - das ist nun mittlerweile einfach sowas von retro ...
und doch waren es die "linken", die gemeinsam sangen: "wacht auf - verdammte dieser erde" ... - aber das ist wieder eine andere geschichte ...
und noch ein wort zu dem wegweiser-foto ganz oben: der "alte weg" geht ab nach rechts - aber führt in eine sackgasse ... - der "neue weg" dagegen führt geradewegs geradeaus ...
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genetik in der genealogie ist auch nicht mehr, was sie mal vor 80 jahren war ...
„Man kann die Herkunft
nicht so genau festlegen“
Gentests, um etwas über die Vorfahren und die eigene Herkunft zu erfahren, sind derzeit in Mode. Alles Unsinn, sagt der Evolutionsforscher und Genetikprofessor Mark Stoneking aus Leipzig. Die Daten lassen eine eindeutige Zuordnung gar nicht zu
Nachbildung eines Neandertalers aus dem Düsseltal bei Mettmann. Für viele gehört auch er zu den Vorfahren
INTERVIEW EDITH KRESTA
taz: Herr Stoneking, haben Sie eine DNA-Analyse machen lassen, um die Herkunft Ihrer Vorfahren zu bestimmen?
Mark Stoneking: Nein.
Wollen Sie eine machen?
Nein.
Warum nicht?
Weil das vor allem der Unterhaltung dient. Eine Auswertung zu haben, wo meine Vorfahren möglicherweise herkommen oder auch nicht herkommen, dass hat für mich keine Bedeutung. Ich weiß, dass viele Leute diesen Test zur Herkunft machen, weil sie hoffen, dass es ihre Identität verändert, ihren Blick auf sie selbst. Ich glaube, dass meine Persönlichkeit auf den Erfahrungen beruht, die ich gemacht habe und etwas über meine Vorfahren von vor tausend Jahren zu wissen, ist nichts an dem ich wirklich interessiert bin.
Es ist doch schön, sich seine Vorfahren möglicherweise als kaukasische Prinzessin vorzustellen.
Okay, es beflügelt die Fantasie, es ist ein Spiel. Und wir Menschen sind neugierig, wollen wissen wo wir herkommen.
Wie funktioniert so ein Test?
Es geht folgendermaßen: Man schaut nach den Vorfahren im Genom eines Menschen und sucht nach der passenden Zuordnung bei der aktuellen Bevölkerung. Dazu bedarf es Daten, die in Datenbanken gespeichert sind. Diese Daten sind nicht realistisch, sondern modellbasiert. Man hat eine gewisse Anzahl an Referenz-DNA und die Zuordnung der Herkunft erfolgt dann nach dem Prinzip: Wir ordnen so zu, wie es am wahrscheinlichsten ist. Die Prozentangaben sind nur eine ungefähre Einschätzung und sollten nicht zu ernst genommen werden.
Der Werbeclip eines Reiseanbieters stellt Menschen vor, denen das Ergebnis ihrer DNA-Analyse präsentiert wird. Sie erfahren beispielsweise ob sie deutsche, afrikanische oder italienische Vorfahren haben. Dann werden sie geschäftstüchtig befragt, ob sie diese Regionen ihrer Vorfahren gerne bereisen wollten. Kann man tatsächliche nationale Zugehörigkeit aus den Tests lesen?
Nein, man kann die Herkunft nicht so genau festlegen. Was man kann, ist großflächige geografische Räume festzulegen, aber so viel Prozent britisch, deutsch oder irisch, das sind Märchen. Das ist nicht korrekt. Diese Anbieter suchen nach der wahrscheinlichsten Zuordnung in den vorhandenen Datenbanken. Es wird dann aber nicht gesagt , dass die Zuordnung lückenhaft ist, sondern man sagt, dies sei die beste Zuordnung. Wir Wissenschaftler würden allenfalls sagen, dass jemand etwa aus Nordwesteuropa stammt. Aber schon, wenn wir in andere Regionen schauen, wird die Zuordnung schwierig, weil wir dort viel zu wenig Datenmaterial haben.
Afrika zum Beispiel?
Ja. So behaupten diverse DNA-Analyse-Anbieter in den USA, dass sie den Ort der afrikanischen Vorfahren, ja sogar das Dorf bestimmen könnten. Das ist Legende. Man kann Vorfahren aus Westafrika feststellen, aber niemals ein Dorf. Und die Datenbasen sind lückenhaft. Zum Beispiel wurde vor ein paar Jahren Westeuropäern, die bei amerikanischen Anbietern den Test machen ließen, Nativ-american-Vorfahren bescheinigt. Das war kaum möglich. Wie sich dann herausstellte, waren es Vorfahren aus Zentralasien, aber deren Informationen standen diesen amerikanischen Datenbanken nicht zur Verfügung.
Die amerikanische Senatorin Elizabeth Warren aus Oklahoma ließ eine DNA-Analyse machen. Und zeigte sich stolz auf ihre „nativ american“ Vorfahren, die sie möglicherweise auch als Wähler gewinnen will.
Ja. Und Trump nannte sie prompt Pocahontas.
Kann sich Elizabeth Warren nun als Nachkomme der Cherokee bezeichnen?
Bei Elizabeth Warren wurde ein Anteil von nicht Übereinstimmung mit dem europäischen Erbgut festgestellt, der sich dem Erbgut der „nativ american“ zuordnen lässt. Daraus ließe sich ableiten, dass sie in ihrem Stammbaum Nativ-american-Vorfahren hat. Aber man kann die genetische Information nicht einem bestimmten Indianerstamm zuordnen.
Was hat es auf sich mit den Unterschieden?
Zuerst: Zu 99,9 Prozent sind wir Menschen in unserem Erbgut identisch. Wir beziehen uns also auf 0,1 Prozent unserer Erbinformation. Da gibt es in der Tat einen Unterschied zwischen der geografischen Herkunft. Diese Tatsache hilft uns, die Geschichte der menschlichen Bevölkerung, ihrer Mobilität zu verstehen.
Und diese 0,1 Prozent im Erbgut sind chaotisch und durcheinander?
Ja, aber es ist trotzdem mächtig und hilfreich, um Bevölkerungsgeschichte zu klären. Natürlich kann man diagnostizieren, dass jemand nordwesteuropäische Vorfahren hat. Es ist wichtig, um die Wanderung zu verstehen, die Geschichte der Menschheit. Wie alles geschah. Es gibt eine Wahrheit darin, aber nicht so, wie es in diesen Tests dargestellt und verkauft wird.
Hat das etwas mit Rasse zu tun?
Wir sprechen in der Anthropologie nicht von Rasse, das ist ein schwieriges Konstrukt. Dann müsste es in der Bevölkerung bestimmte Unterschiede geben, die ganz klar bestimmt und abgegrenzt werden können. Aber wenn wir schauen, wie die genetischen Unterschiede der Menschen auf der ganzen Welt sich darstellen, dann gibt es keine klaren Zuordnungen, sondern nur graduelle Unterschiede. Zwar können Menschen aus einer Region mehr Ähnlichkeiten aufweisen, aber gleichzeitig auch Unterschiede, die sie mit Menschen aus einer anderen Region teilen. Biologisch gibt es keine eindeutige Zuordnung. Deshalb ist Rasse nicht hilfreich, um die Menschen zu verorten. Es ist eine soziales Konstrukt und keine biologische Einordnung. Wir sprechen in der Anthropologie von Bevölkerung und nicht von Rassen. Man kann Unterschiede identifizieren, aber die sind nie eindeutig. Es gibt genetische Unterschiede, aber diese sind immer fließend.
Es gibt also keine biologische Reinheit.
Nein. Unsere ganz Menschheitsgeschichte haben wir uns vermischt. Die Einteilung der Spezies Mensch in Rassen oder Unterarten ist aus wissenschaftlicher Sicht heute obsolet. Die sichtbaren Unterschiede aus verschiedenen Kontinenten führen nicht zu objektiv abgrenzbaren Gruppen, da die Übergänge fließend sind. Wir leben unter verschiedenen klimatischen Bedingung, wir ernähren uns anders, wir sind anderen Parasiten ausgesetzt, anderen Krankheiten. All das produziert die Unterschiede, die wir sehen unter den Bevölkerungen. Hinzu kommen die zufälligen Veränderungen, der genetische Drift. Aber unsere Vorfahren sind immer gewandert, haben sich immer vermischt. Selbst in den abgelegensten Stämmen gibt es genetische Variationen und unterschiedliche Einflüsse.
Manche preisen die Tests als Argument gegen Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung an.
Ja, aber man könnte ja auch einfach auf die Übereinstimmung aller Menschen mit 99,9 Prozent hinweisen, statt die Unterschiede zu betonen zu suchen. Man kann die Dinge immer interpretieren wie man will. Zum Beispiel beruft sich die „white supremacy“-Bewegung in den USA (weiße Überlegenheit, Anm. der Red.), nachdem ihre Vorfahren nun nicht wirklich rein sind, inzwischen auf den genetischen Einfluss des Neandertalers im Erbgut, der sie angeblich überlegen macht. Diesen Einfluss haben Afrikaner nicht. Man könnte nun genau umgekehrt sagen, deshalb sind die Afrikaner die wahren Menschen.
taz, 23.November 2018, S. 18 wissenschaft
nicht so genau festlegen“
Gentests, um etwas über die Vorfahren und die eigene Herkunft zu erfahren, sind derzeit in Mode. Alles Unsinn, sagt der Evolutionsforscher und Genetikprofessor Mark Stoneking aus Leipzig. Die Daten lassen eine eindeutige Zuordnung gar nicht zu

Foto: Federico Gambarini/dpa
INTERVIEW EDITH KRESTA
taz: Herr Stoneking, haben Sie eine DNA-Analyse machen lassen, um die Herkunft Ihrer Vorfahren zu bestimmen?
Mark Stoneking: Nein.
Wollen Sie eine machen?
Nein.
Warum nicht?
Weil das vor allem der Unterhaltung dient. Eine Auswertung zu haben, wo meine Vorfahren möglicherweise herkommen oder auch nicht herkommen, dass hat für mich keine Bedeutung. Ich weiß, dass viele Leute diesen Test zur Herkunft machen, weil sie hoffen, dass es ihre Identität verändert, ihren Blick auf sie selbst. Ich glaube, dass meine Persönlichkeit auf den Erfahrungen beruht, die ich gemacht habe und etwas über meine Vorfahren von vor tausend Jahren zu wissen, ist nichts an dem ich wirklich interessiert bin.
Es ist doch schön, sich seine Vorfahren möglicherweise als kaukasische Prinzessin vorzustellen.
Okay, es beflügelt die Fantasie, es ist ein Spiel. Und wir Menschen sind neugierig, wollen wissen wo wir herkommen.
Wie funktioniert so ein Test?
Es geht folgendermaßen: Man schaut nach den Vorfahren im Genom eines Menschen und sucht nach der passenden Zuordnung bei der aktuellen Bevölkerung. Dazu bedarf es Daten, die in Datenbanken gespeichert sind. Diese Daten sind nicht realistisch, sondern modellbasiert. Man hat eine gewisse Anzahl an Referenz-DNA und die Zuordnung der Herkunft erfolgt dann nach dem Prinzip: Wir ordnen so zu, wie es am wahrscheinlichsten ist. Die Prozentangaben sind nur eine ungefähre Einschätzung und sollten nicht zu ernst genommen werden.
Der Werbeclip eines Reiseanbieters stellt Menschen vor, denen das Ergebnis ihrer DNA-Analyse präsentiert wird. Sie erfahren beispielsweise ob sie deutsche, afrikanische oder italienische Vorfahren haben. Dann werden sie geschäftstüchtig befragt, ob sie diese Regionen ihrer Vorfahren gerne bereisen wollten. Kann man tatsächliche nationale Zugehörigkeit aus den Tests lesen?
Nein, man kann die Herkunft nicht so genau festlegen. Was man kann, ist großflächige geografische Räume festzulegen, aber so viel Prozent britisch, deutsch oder irisch, das sind Märchen. Das ist nicht korrekt. Diese Anbieter suchen nach der wahrscheinlichsten Zuordnung in den vorhandenen Datenbanken. Es wird dann aber nicht gesagt , dass die Zuordnung lückenhaft ist, sondern man sagt, dies sei die beste Zuordnung. Wir Wissenschaftler würden allenfalls sagen, dass jemand etwa aus Nordwesteuropa stammt. Aber schon, wenn wir in andere Regionen schauen, wird die Zuordnung schwierig, weil wir dort viel zu wenig Datenmaterial haben.
Afrika zum Beispiel?
Ja. So behaupten diverse DNA-Analyse-Anbieter in den USA, dass sie den Ort der afrikanischen Vorfahren, ja sogar das Dorf bestimmen könnten. Das ist Legende. Man kann Vorfahren aus Westafrika feststellen, aber niemals ein Dorf. Und die Datenbasen sind lückenhaft. Zum Beispiel wurde vor ein paar Jahren Westeuropäern, die bei amerikanischen Anbietern den Test machen ließen, Nativ-american-Vorfahren bescheinigt. Das war kaum möglich. Wie sich dann herausstellte, waren es Vorfahren aus Zentralasien, aber deren Informationen standen diesen amerikanischen Datenbanken nicht zur Verfügung.
Die amerikanische Senatorin Elizabeth Warren aus Oklahoma ließ eine DNA-Analyse machen. Und zeigte sich stolz auf ihre „nativ american“ Vorfahren, die sie möglicherweise auch als Wähler gewinnen will.
Ja. Und Trump nannte sie prompt Pocahontas.
Kann sich Elizabeth Warren nun als Nachkomme der Cherokee bezeichnen?
Bei Elizabeth Warren wurde ein Anteil von nicht Übereinstimmung mit dem europäischen Erbgut festgestellt, der sich dem Erbgut der „nativ american“ zuordnen lässt. Daraus ließe sich ableiten, dass sie in ihrem Stammbaum Nativ-american-Vorfahren hat. Aber man kann die genetische Information nicht einem bestimmten Indianerstamm zuordnen.
Was hat es auf sich mit den Unterschieden?
Zuerst: Zu 99,9 Prozent sind wir Menschen in unserem Erbgut identisch. Wir beziehen uns also auf 0,1 Prozent unserer Erbinformation. Da gibt es in der Tat einen Unterschied zwischen der geografischen Herkunft. Diese Tatsache hilft uns, die Geschichte der menschlichen Bevölkerung, ihrer Mobilität zu verstehen.
Und diese 0,1 Prozent im Erbgut sind chaotisch und durcheinander?
Ja, aber es ist trotzdem mächtig und hilfreich, um Bevölkerungsgeschichte zu klären. Natürlich kann man diagnostizieren, dass jemand nordwesteuropäische Vorfahren hat. Es ist wichtig, um die Wanderung zu verstehen, die Geschichte der Menschheit. Wie alles geschah. Es gibt eine Wahrheit darin, aber nicht so, wie es in diesen Tests dargestellt und verkauft wird.
Hat das etwas mit Rasse zu tun?
Wir sprechen in der Anthropologie nicht von Rasse, das ist ein schwieriges Konstrukt. Dann müsste es in der Bevölkerung bestimmte Unterschiede geben, die ganz klar bestimmt und abgegrenzt werden können. Aber wenn wir schauen, wie die genetischen Unterschiede der Menschen auf der ganzen Welt sich darstellen, dann gibt es keine klaren Zuordnungen, sondern nur graduelle Unterschiede. Zwar können Menschen aus einer Region mehr Ähnlichkeiten aufweisen, aber gleichzeitig auch Unterschiede, die sie mit Menschen aus einer anderen Region teilen. Biologisch gibt es keine eindeutige Zuordnung. Deshalb ist Rasse nicht hilfreich, um die Menschen zu verorten. Es ist eine soziales Konstrukt und keine biologische Einordnung. Wir sprechen in der Anthropologie von Bevölkerung und nicht von Rassen. Man kann Unterschiede identifizieren, aber die sind nie eindeutig. Es gibt genetische Unterschiede, aber diese sind immer fließend.
Es gibt also keine biologische Reinheit.
Nein. Unsere ganz Menschheitsgeschichte haben wir uns vermischt. Die Einteilung der Spezies Mensch in Rassen oder Unterarten ist aus wissenschaftlicher Sicht heute obsolet. Die sichtbaren Unterschiede aus verschiedenen Kontinenten führen nicht zu objektiv abgrenzbaren Gruppen, da die Übergänge fließend sind. Wir leben unter verschiedenen klimatischen Bedingung, wir ernähren uns anders, wir sind anderen Parasiten ausgesetzt, anderen Krankheiten. All das produziert die Unterschiede, die wir sehen unter den Bevölkerungen. Hinzu kommen die zufälligen Veränderungen, der genetische Drift. Aber unsere Vorfahren sind immer gewandert, haben sich immer vermischt. Selbst in den abgelegensten Stämmen gibt es genetische Variationen und unterschiedliche Einflüsse.
Manche preisen die Tests als Argument gegen Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung an.
Ja, aber man könnte ja auch einfach auf die Übereinstimmung aller Menschen mit 99,9 Prozent hinweisen, statt die Unterschiede zu betonen zu suchen. Man kann die Dinge immer interpretieren wie man will. Zum Beispiel beruft sich die „white supremacy“-Bewegung in den USA (weiße Überlegenheit, Anm. der Red.), nachdem ihre Vorfahren nun nicht wirklich rein sind, inzwischen auf den genetischen Einfluss des Neandertalers im Erbgut, der sie angeblich überlegen macht. Diesen Einfluss haben Afrikaner nicht. Man könnte nun genau umgekehrt sagen, deshalb sind die Afrikaner die wahren Menschen.
- Mark Stoneking ist 1956 in den USA geboren. Der Genetiker ist seit 1999 Gruppenleiter (Human Population History) am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Honorarprofessor an der Leipziger Universität.
taz, 23.November 2018, S. 18 wissenschaft
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man sieht schon an einem solchen durchschnitts-resultat: wir alle sind mit soundsoviel prozent das - und jenes und und und ...
wir können uns also die 70/80 euro eines solchen tests sparen ...
in der debatte aber: was ist deutsch - was ist deutsche "leitkultur" - blut-und-boden-denken - und wer hat einen migrationshintergrund - für sll diese tüftler ist ein solches durchschnittsergebnis sehr aufschlussreich.
oder auch, wenn heutzutage familienangehörige beschämt sind, wenn ihre großeltern oder großtante/großonkel zum beispiel opfer der nazi-"euthanasie" geworden sind ... (ist dadurch "unser erbgut" in mitleidenschaft gezogen worden ???)
ob das aber die von storchs, weidels, gaulands, orbáns usw. sehen wollen ... ???
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Hans Otto - * 10. August 1900 in Dresden; † 24. November 1933 in Berlin
Charme und Haltung
Eine Erinnerung an den Schauspieler Hans Otto - ein frühes Opfer nationalsozialistischer Gewalt in Berlin
Von Ralf Stabel
Wo ist Hans Otto geblieben? So wurde in Johann Kresniks Inszenierung „Gründgens“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg die berühmte und umstrittene Titelfigur anklagend befragt. Was ist mit Hans Otto geschehen?
Gustaf Gründgens kam 1932 ans Preußische Staatstheater in Berlin, seine erste Rolle war der Mephisto in Goethes „Faust“. 1934 wurde er dort Intendant und zum Staatsschauspieler ernannt. Er blieb es bis 1945. Nach dem Krieg setzte er seine außergewöhnliche Karriere als Schauspieler und Regisseur in Düsseldorf und Hamburg fort; er starb 1963. Hans Otto war in Berlin ein fast gleichaltriger Kollege. Nationalsozialisten haben ihn ermordet. Gustaf Gründgens - auch das gehört zu dieser schlimmen Geschichte - bezahlte die Beerdigung.
Am 24. November 1933 war Hans Otto an den Folgen mehrtägiger Folterungen gestorben. Zur Beerdigung auf dem Friedhof in Stahnsdorf erschien Gründgens, wie das gesamte Ensemble, allerdings nicht. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hatte dies untersagt.
Heute muss man auch fragen: Wer war Hans Otto? Wer kennt seinen Namen? Hans Otto war bis zum Tag seiner Verhaftung am 14. November 1933 einer der bekanntesten und beliebtesten deutschen Schauspieler.
Geboren wird Otto am 10. August 1900 in Dresden. Als er elf Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Er ist der
älteste von fünf Brüdern, hat noch eine ältere Schwester. Nicht einmal 18 Jahre alt, kommt er für wenige Monate zum Militär. Anschließend fühlt er sich stark genug, dem übermächtigen Vater zu eröffnen, dass er nicht wie vorbestimmt Kaufmann, sondern Schauspieler werden möchte. Als der dies zurückweist, bricht der sensible junge Mann ohnmächtig zusammen. Doch er nimmt Unterricht und wird mit 21 Jahren von Adam Kuckhoff ans Frankfurter Künstler-Theater engagiert.
Dort lernt er die Schauspielerin Mie Paulun kennen, die zehn Jahre ältere Frau seines Chefs. Sie werden heiraten. Stationen seiner Laufbahn ab 1924 sind die Hamburger Kammerspiele unter Erich Ziegel, dann ein Engagement bei Walter Bruno Iltz am Reußischen Theater in Gera, anschließend wieder zurück nach Hamburg. Bereits 1929 wechselt er nach Berlin an das von Victor Barnowsky geführte Theater in der Stresemannstraße. Ein Jahr später wird er von Leopold Jessner ans Staatliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt verpflichtet.
Ein Jungstar, würde man heute sagen. Seine Rollenfächer sind jugendlicher Liebhaber und Held. Er spielt den Romeo und den Prinzen von Homburg, den Orlando und den Egmont sowie den Posa, den Beaumarchais, den Clavigo, den Woyzeck und viele andere mehr. Er ist auch die Titelfigur in Bertolt Brechts „Leben Eduards II. von England“ und spielt in Friedrich Wolfs „Kolonne Hund“.
Sein Kollege Wolfgang Heinz wird sich später erinnern: „Hans Otto sah sehr gut aus, wie für die Bühne geschaffen. Er sah aus, wie ein jugendlicher Held aussehen muss.“
Die Kritiken der Anfangsjahre sprechen bei Otto von Leidenschaft und Jugend, aber auch von einem knabenhaften Darsteller, der mit dem Überschwang seiner Jugend spielt. Er überzeichnet offenbar gern. Die Rolle des Ruprecht in „Der zerbrochne Krug“ soll von ihm etwas übersteigert dargestellt worden sein. Den Leon in Franz Grillparzers „Weh dem, der lügt“ findet die Presse „zu krass ausgedrückt in Spiel und Bewegung“. Von „wild überschäumend“ bis „übersteigert“ ist die Rede. Doch schon bei seinem zweiten Hamburger Engagement scheint er sein Temperament in den Griff bekommen zu haben.
Von „außerordentlicher dramatischer Intensität“ sei seine Interpretation in Ferdinand Bruckners „Die Verbrecher“ gewesen. Die Darstellung des Homosexuellen Ottfried scheint ihm so überzeugend gelungen zu sein, dass die Aufführung des Stückes tumultartige Szenen auslöst und er aus der Rolle tretend den aufgebrachten Zuschauerinnen und Zuschauern zuruft: „Beruhigen Sie sich doch, ich bin ja gar nicht so!“ Der Schauspieler Paul Bildt meinte, Otto habe Frauen und Männer gleichermaßen in seinen Bann gezogen.
Durch den Kollegen Gustav von Wangenheim wird er mit dem Marxismus und kommunistischen Ideen bekannt. Er tritt 1927 in die KPD ein, engagiert sich neben der eigenen Karriere für Arbeitertheater und in der Gewerkschaft der Bühnenangehörigen und wird 1931 deren Obmann in Berlin. In dem Ufa-Film „Das gestohlene Gesicht“ spielt er im Jahr zuvor die Hauptrolle des Bill Breithen, einen begabten Verwandlungskünstler, der sich in immer neuen Masken der Verhaftung entzieht. Hatte er die für ihn so erfolgreiche Rolle des jugendlichen Helden so verinnerlicht, dass er glaubte, sie auch im wahren Leben spielen zu können, spielen zu müssen?
Als im Februar 1933 sein Engagement am Staatstheater nicht verlängert, er seiner Funktion in der Gewerkschaft enthoben und die KPD verboten wird, beginnt er mit der lebensgefährlichen Widerstandsarbeit im Untergrund. Er hätte als im NS-Deutschland gefährdeter Schauspieler nach Wien, Prag und Zürich gehen können. Die Angebote lagen vor.
Doch er bleibt und wird am 14. November 1933 in einem Café am Victoria-Luise-Platz verhaftet, an verschiedenen Orten in Berlin misshandelt und schließlich von der SA aus dem Fenster des dritten Stocks ihres berüchtigten Quartiers in der Voßstraße gestoßen - ein Selbstmord soll vorgetäuscht werden. Von vielen wird er vermisst: Bertolt Brecht schreibt nach dem Verschwinden von Hans Otto einen offenen Brief an dessen Kollegen Heinrich George.
Darin schildert er den Schauspieler als einen „Mann seltener Art, unkäuflich“ und fragt: „Wo ist er?“ Mehrsprachige Flugblätter weisen nach seinem in Deutschland verschwiegenen Tod im Ausland auf sein Schicksal hin. 1937 wird in Zürich der Hans-Otto-Fonds gegründet. Ein Prozent der Gage gibt das Ensemble zur Unterstützung des antifaschistischen Kampfes, in Prag beteiligt man sich ebenso.
Der Brief von Bertolt Brecht wird 1938 beim Gastspiel des Berliner Schillertheaters in Prag mit der Inszenierung „Der Richter von Zalamea“, in der einst Hans Otto mitgespielt hatte, in den Zuschauerraum geworfen. Und er wird nicht vergessen: Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es am 24. November 1946 endlich die Trauerfeier für Hans Otto im Deutschen Theater Berlin. Die aus der Emigration Heimgekehrten, die KZ-Überlebenden und die, die geblieben waren und weitergearbeitet hatten, erinnern sich an ihren ehemaligen Kollegen und Freund. Im folgenden Jahr wird die Hans-Otto-Stiftung mit einem nach ihm benannten Stipendienfonds gegründet.
In der DDR wird das Erinnern an ihn dann staatlich gelenkt, das von den Nationalsozialisten zerstörte Leben des Hans Otto wird für den Aufbau einer sozialistischen Nationalkultur auch instrumentalisiert. Ab 1958 werden Theaterensembles und einzelne, auch internationale Theaterkünstlerinnen und -künstler im Rahmen eines nach ihm benannten Wettbewerbs mit dem Hans-Otto-Preis ausgezeichnet. Es gibt Hans-Otto-Plaketten und -Medaillen. Sein Stiefsohn Armin-Gerd Kuckhoff, der in den 1960er Jahren Leiter des nach Leipzig verlegten Deutschen Theater-Instituts Weimar wird, schlägt vor, dieser Theaterhochschule den Namen „Hans Otto“ zu verleihen, den sie von 1967 bis zu ihrer Auflösung 1992 tragen wird.
Viele namhafte Künstlerinnen und Künstler hat diese Schule hervorgebracht. Zu den bekanntesten zählen sicher Peter Ensikat, Eberhard Esche, Freya Klier, Harry Kupfer, Thomas Langhoff, Ulrich Mühe, Jörg Schüttauf, Peter Sodann und viele andere. Das Theater in Potsdam und seit 1974 eine Straße in Berlin-Prenzlauer Berg sind nach ihm benannt, 1975 ernennt das Deutsche Theater Berlin ihn posthum zum Ehrenmitglied. 1948 und 1985 erscheinen in der DDR zwar Bücher über ihn, aber eine ideologiefreie, sein Leben und Werk darstellende Monografie gibt es bis dato nicht. In der ehemaligen Bundesrepublik ist ein Gedenken an den Künstler, Kommunisten und Gewerkschafter gar nicht erkennbar. Erst 2016 hat sich ein Verein gegründet, der das Andenken an diesen besonderen Menschen und Künstler bewahren möchte.
Am Hansa-Ufer 6 in Berlin und vor seinem Geburtshaus in Dresden erinnern heute Stolpersteine an ihn und sein Schicksal, und seit diesem Jahr ist seine letzte Ruhestätte eine Ehrengrabstelle des Landes Berlin. Die neue Intendantin des Potsdamer Hans-Otto-Theaters, Bettina Jahnke, ist Absolventin der Leipziger Hochschule. Der Name Hans Otto sei ihr Verpflichtung, bekennt sie immer wieder. Einer der von ihr am häufigsten verwendeten Begriffe bei der Vorstellung ihrer Theaterpläne ist „Haltung“. Hans Otto hatte Haltung. Viele seiner Kollegen nicht.
TAGESSPIEGEL Nr. 23660 - 24.11.2018 - S. 25 - KULTUR
Eine Erinnerung an den Schauspieler Hans Otto - ein frühes Opfer nationalsozialistischer Gewalt in Berlin
Von Ralf Stabel
Wo ist Hans Otto geblieben? So wurde in Johann Kresniks Inszenierung „Gründgens“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg die berühmte und umstrittene Titelfigur anklagend befragt. Was ist mit Hans Otto geschehen?
Gustaf Gründgens kam 1932 ans Preußische Staatstheater in Berlin, seine erste Rolle war der Mephisto in Goethes „Faust“. 1934 wurde er dort Intendant und zum Staatsschauspieler ernannt. Er blieb es bis 1945. Nach dem Krieg setzte er seine außergewöhnliche Karriere als Schauspieler und Regisseur in Düsseldorf und Hamburg fort; er starb 1963. Hans Otto war in Berlin ein fast gleichaltriger Kollege. Nationalsozialisten haben ihn ermordet. Gustaf Gründgens - auch das gehört zu dieser schlimmen Geschichte - bezahlte die Beerdigung.
Am 24. November 1933 war Hans Otto an den Folgen mehrtägiger Folterungen gestorben. Zur Beerdigung auf dem Friedhof in Stahnsdorf erschien Gründgens, wie das gesamte Ensemble, allerdings nicht. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hatte dies untersagt.
Heute muss man auch fragen: Wer war Hans Otto? Wer kennt seinen Namen? Hans Otto war bis zum Tag seiner Verhaftung am 14. November 1933 einer der bekanntesten und beliebtesten deutschen Schauspieler.
Geboren wird Otto am 10. August 1900 in Dresden. Als er elf Jahre alt ist, stirbt die Mutter. Er ist der
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Jugendlicher Held - Hans Otto - nach einem Ullstein-Foto |
Dort lernt er die Schauspielerin Mie Paulun kennen, die zehn Jahre ältere Frau seines Chefs. Sie werden heiraten. Stationen seiner Laufbahn ab 1924 sind die Hamburger Kammerspiele unter Erich Ziegel, dann ein Engagement bei Walter Bruno Iltz am Reußischen Theater in Gera, anschließend wieder zurück nach Hamburg. Bereits 1929 wechselt er nach Berlin an das von Victor Barnowsky geführte Theater in der Stresemannstraße. Ein Jahr später wird er von Leopold Jessner ans Staatliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt verpflichtet.
Ein Jungstar, würde man heute sagen. Seine Rollenfächer sind jugendlicher Liebhaber und Held. Er spielt den Romeo und den Prinzen von Homburg, den Orlando und den Egmont sowie den Posa, den Beaumarchais, den Clavigo, den Woyzeck und viele andere mehr. Er ist auch die Titelfigur in Bertolt Brechts „Leben Eduards II. von England“ und spielt in Friedrich Wolfs „Kolonne Hund“.
Sein Kollege Wolfgang Heinz wird sich später erinnern: „Hans Otto sah sehr gut aus, wie für die Bühne geschaffen. Er sah aus, wie ein jugendlicher Held aussehen muss.“
Die Kritiken der Anfangsjahre sprechen bei Otto von Leidenschaft und Jugend, aber auch von einem knabenhaften Darsteller, der mit dem Überschwang seiner Jugend spielt. Er überzeichnet offenbar gern. Die Rolle des Ruprecht in „Der zerbrochne Krug“ soll von ihm etwas übersteigert dargestellt worden sein. Den Leon in Franz Grillparzers „Weh dem, der lügt“ findet die Presse „zu krass ausgedrückt in Spiel und Bewegung“. Von „wild überschäumend“ bis „übersteigert“ ist die Rede. Doch schon bei seinem zweiten Hamburger Engagement scheint er sein Temperament in den Griff bekommen zu haben.
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Hans Otto - Bildbearbeitung nach einem Foto in der Märkischen Allgemeinen |
Von „außerordentlicher dramatischer Intensität“ sei seine Interpretation in Ferdinand Bruckners „Die Verbrecher“ gewesen. Die Darstellung des Homosexuellen Ottfried scheint ihm so überzeugend gelungen zu sein, dass die Aufführung des Stückes tumultartige Szenen auslöst und er aus der Rolle tretend den aufgebrachten Zuschauerinnen und Zuschauern zuruft: „Beruhigen Sie sich doch, ich bin ja gar nicht so!“ Der Schauspieler Paul Bildt meinte, Otto habe Frauen und Männer gleichermaßen in seinen Bann gezogen.
Durch den Kollegen Gustav von Wangenheim wird er mit dem Marxismus und kommunistischen Ideen bekannt. Er tritt 1927 in die KPD ein, engagiert sich neben der eigenen Karriere für Arbeitertheater und in der Gewerkschaft der Bühnenangehörigen und wird 1931 deren Obmann in Berlin. In dem Ufa-Film „Das gestohlene Gesicht“ spielt er im Jahr zuvor die Hauptrolle des Bill Breithen, einen begabten Verwandlungskünstler, der sich in immer neuen Masken der Verhaftung entzieht. Hatte er die für ihn so erfolgreiche Rolle des jugendlichen Helden so verinnerlicht, dass er glaubte, sie auch im wahren Leben spielen zu können, spielen zu müssen?
Als im Februar 1933 sein Engagement am Staatstheater nicht verlängert, er seiner Funktion in der Gewerkschaft enthoben und die KPD verboten wird, beginnt er mit der lebensgefährlichen Widerstandsarbeit im Untergrund. Er hätte als im NS-Deutschland gefährdeter Schauspieler nach Wien, Prag und Zürich gehen können. Die Angebote lagen vor.
Doch er bleibt und wird am 14. November 1933 in einem Café am Victoria-Luise-Platz verhaftet, an verschiedenen Orten in Berlin misshandelt und schließlich von der SA aus dem Fenster des dritten Stocks ihres berüchtigten Quartiers in der Voßstraße gestoßen - ein Selbstmord soll vorgetäuscht werden. Von vielen wird er vermisst: Bertolt Brecht schreibt nach dem Verschwinden von Hans Otto einen offenen Brief an dessen Kollegen Heinrich George.
Darin schildert er den Schauspieler als einen „Mann seltener Art, unkäuflich“ und fragt: „Wo ist er?“ Mehrsprachige Flugblätter weisen nach seinem in Deutschland verschwiegenen Tod im Ausland auf sein Schicksal hin. 1937 wird in Zürich der Hans-Otto-Fonds gegründet. Ein Prozent der Gage gibt das Ensemble zur Unterstützung des antifaschistischen Kampfes, in Prag beteiligt man sich ebenso.
Der Brief von Bertolt Brecht wird 1938 beim Gastspiel des Berliner Schillertheaters in Prag mit der Inszenierung „Der Richter von Zalamea“, in der einst Hans Otto mitgespielt hatte, in den Zuschauerraum geworfen. Und er wird nicht vergessen: Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es am 24. November 1946 endlich die Trauerfeier für Hans Otto im Deutschen Theater Berlin. Die aus der Emigration Heimgekehrten, die KZ-Überlebenden und die, die geblieben waren und weitergearbeitet hatten, erinnern sich an ihren ehemaligen Kollegen und Freund. Im folgenden Jahr wird die Hans-Otto-Stiftung mit einem nach ihm benannten Stipendienfonds gegründet.
In der DDR wird das Erinnern an ihn dann staatlich gelenkt, das von den Nationalsozialisten zerstörte Leben des Hans Otto wird für den Aufbau einer sozialistischen Nationalkultur auch instrumentalisiert. Ab 1958 werden Theaterensembles und einzelne, auch internationale Theaterkünstlerinnen und -künstler im Rahmen eines nach ihm benannten Wettbewerbs mit dem Hans-Otto-Preis ausgezeichnet. Es gibt Hans-Otto-Plaketten und -Medaillen. Sein Stiefsohn Armin-Gerd Kuckhoff, der in den 1960er Jahren Leiter des nach Leipzig verlegten Deutschen Theater-Instituts Weimar wird, schlägt vor, dieser Theaterhochschule den Namen „Hans Otto“ zu verleihen, den sie von 1967 bis zu ihrer Auflösung 1992 tragen wird.
Viele namhafte Künstlerinnen und Künstler hat diese Schule hervorgebracht. Zu den bekanntesten zählen sicher Peter Ensikat, Eberhard Esche, Freya Klier, Harry Kupfer, Thomas Langhoff, Ulrich Mühe, Jörg Schüttauf, Peter Sodann und viele andere. Das Theater in Potsdam und seit 1974 eine Straße in Berlin-Prenzlauer Berg sind nach ihm benannt, 1975 ernennt das Deutsche Theater Berlin ihn posthum zum Ehrenmitglied. 1948 und 1985 erscheinen in der DDR zwar Bücher über ihn, aber eine ideologiefreie, sein Leben und Werk darstellende Monografie gibt es bis dato nicht. In der ehemaligen Bundesrepublik ist ein Gedenken an den Künstler, Kommunisten und Gewerkschafter gar nicht erkennbar. Erst 2016 hat sich ein Verein gegründet, der das Andenken an diesen besonderen Menschen und Künstler bewahren möchte.
Am Hansa-Ufer 6 in Berlin und vor seinem Geburtshaus in Dresden erinnern heute Stolpersteine an ihn und sein Schicksal, und seit diesem Jahr ist seine letzte Ruhestätte eine Ehrengrabstelle des Landes Berlin. Die neue Intendantin des Potsdamer Hans-Otto-Theaters, Bettina Jahnke, ist Absolventin der Leipziger Hochschule. Der Name Hans Otto sei ihr Verpflichtung, bekennt sie immer wieder. Einer der von ihr am häufigsten verwendeten Begriffe bei der Vorstellung ihrer Theaterpläne ist „Haltung“. Hans Otto hatte Haltung. Viele seiner Kollegen nicht.
TAGESSPIEGEL Nr. 23660 - 24.11.2018 - S. 25 - KULTUR
„Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“, sagt der sozialpsychologe harald welzer in einem essay. ja - als hätten die nationalsozialisten immer gern "ganze arbeit" gemacht: mit dem im wahrsten sinne des wortes anschließenden "tot-schweigen" nach der tat an den nazi-opfern sollten nach damaligen sprachgebrauch menschen tatsächlich "ausgemerzt" werden: ein für alle mal vernichtet werden.
dagegen hat der künstler gunter demnig eben auch seine inzwischen 70.000 "stolpersteine" gelegt, damit das nicht geschieht: damit wir über die namen - und die personen dahinter - "stolpern" - und nach ihnen googeln und forschen, wenn wir so einen stein z.b. mit dem smartphone fotografiert haben.
hier war es der "tagesspiegel", der den vergessenen schauspieler hans otto ins bewusstsein rückt, denn diejenigen, die sich tatsächlich an ihn erinnern, werden von tag zu tag weniger. und damit würden eben auch die namen vergehen ...
aber auch das nazi-unrecht iund all die mordtaten verjähren nicht - und lassen sich eben nicht und hoffentlich nie gänzlich "ausmerzen" ...
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weißen teig gematscht
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kocks begegnung mit dem roten faden
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das aufgerichtete selbst zwischen versuch & irrtum
POSTMODERNE
Die Gräuel der Selbstverwirklichung
Vom Feuchtgebiet ins Minenfeld: Ausgerechnet Charlotte Roche spricht sich gegen Selbstverwirklichung aus. Sie verstößt damit gegen ein Glaubensprinzip der Postmoderne. Und ist sich einig mit Houellebecq.
Von Matthias Heine
Das Todesurteil kam aus dem Munde einer Person, von der man das nicht unbedingt erwartet hätte: „Ich bin sehr gegen Selbstverwirklichung“, hat ausgerechnet die Moderatorin, Bestsellerautorin und Feuchtgebietsforscherin Charlotte Roche gesagt. Um der Wahrheit Genüge zu tun: Sie will die Selbstverwirklichung nicht wirklich liqudieren, sondern nur für lange Zeit verbieten.
Der vollständige Satz lautete: „Ich bin sehr gegen Selbstverwirklichung in der Zeit, in der man Kinder hat.“ Zu ihren Eltern, die offenbar rücksichtlose Selbstverwirklichungsdrachen waren – eine Spezies, die sich seit den Sechzigerjahren verbreitete wie eine Landplage –, hat sie deshalb nach jahrelanger Therapie den Kontakt abgebrochen.
Wenn Menschen durch Therapie zu Arschlöchern werden
Interessant ist das auch, weil es ja gerade Therapeuten sind, die ihren Patienten oft zur Selbstverwirklichung raten. Unter Stadtneurotikern kennt doch jeder einen, der plötzlich anfängt, sich rücksichtslos, ungehemmt und blöd zu benehmen. Meist kommt dann heraus, dass er eine Therapie angefangen hat.
Es gibt in der Komödie „Reine Nervensache“ die Szene, in der der von Robert De Niro gespielte Mafiaboss zu seinem Psychiater sagt: „Wenn du mich schwul machst, bring ich dich um.“ Viel häufiger machen Psychiater Menschen zu Arschlöchern. Aber De Niros Problem ist im Film ja gerade, dass seine für einen Gangster überlebensnotwendigen Arschlochreflexe nicht mehr funktionieren.
Der Begriff Selbstverwirklichung stammt allerdings nicht aus dem Psychogewäsch der neueren Zeit, sondern aus der Philosophie. Belegen lässt er sich seit den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts bei Jacob Spengler, Kuno Fischer, Carl Ullmann und Leopold Schmidt. Allerdings meinten die Herren damit durchaus etwas anderes als wir heute: Selbstverwirklichung war für sie, dass der Mensch im idealistischen und theologischen Sinne ganz zu sich selbst kam.
An Sex, Drogen, Drachenfliegen, Gesichtstätowierungen und andere Exerzitien des modernen Selbstverwirklichungsglaubens dachten sie dabei noch nicht – Spengler war katholischer, Ullmann evangelischer Theologe, Fischer Neokantianer und Schmidt Fachmann für altgriechische Ethik.
Philosophiegeschichtlich wird diese ältere Idee der Selbstverwirklichung sogar auf die Antike zurückgeführt. Das seit den Vorsokratikern bekannte Prinzip der Eudaimonia, also eine gelungene Lebensführung nach einer philosophischen Ethik und der damit verbundene ausgeglichene Gemütszustand, wird gelegentlich so übersetzt. 1960 veröffentlichte der Pädagogiktheoretiker Wilhelm Himmerich ein Buch beispielsweise namens „Eudaimonia, die Lehre des Plotin von der Selbstverwirklichung des Menschen“.
Plotin hatte Charlotte Roche nicht im Sinne, als sie sich jetzt gegen Selbstverwirklichung auf dem Rücken der Kinder aussprach. Sie dachte an jene Bedeutung, die das Wort seit den Sechzigerjahren angenommen hat, als der Kultus des Individuums endgültig zur Massenreligion wurde. Noch die austauschbarsten Dutzendmenschen verfielen plötzlich dem Irrglauben, sie hätten ein Selbst und dieses müsse aus dem Käfig gesellschaftlicher Rücksichtnahmen befreit werden.
Der Begriff meinte nun: Ausleben der eigenen sexuellen Bedürfnisse, der Kreativitä (was auch immer damit gemeint war) und sonstiger Impulse, notfalls auch mit antisozialer Rabiatheit. Diese Befreiung aus den Fesseln des Kollektivs hatte sich seit mindestens 200 Jahren in der Kunst angedeutet, sie war im Leben aber bis dahin weitgehend auf den Künstlertypus beschränkt geblieben.
Der Kunsthistoriker Werner Hoffmann hat den Gegensatz zwischen alter und neuer Kunst so beschrieben und gefeiert: „Hier also Kult, Dogma und Piedestal, ein streng hierarchisches Gefüge – im anderen Lager die Verherrlichung des selbstgewissen Originalgenies, das Fehlen jeglichen institutionellen oder reglementierenden Denkens, Kunst als Selbstverwirklichung, nicht als Gottesdienst.“ Das ist wohl der Sound, den ein Autor des damals noch sehr linken „Kursbuchs“ verdammen wollte, als er schrieb Selbstverwirklichung sei nur eine „humanistische Phrase“.
Die Diskurskopeke des Vulgär-Reichianismus
Als seit den späten Siebzigerjahren in den westlichen Gesellschaften Marxismus und Psychoanalyse anfingen, miteinander ins Bett zu gehen, wurde Selbstverwirklichung zur massenhaften Diskurskopeke. Verkuppelt hatte die beiden großen geistigen Strömungen des 20. Jahrhunderts schon seit Jahrzehnten der kommunistische Freudianer Wilhelm Reich (dass er später Antikommunist wurde, wurde von der linken Rezeption ausgeblendet). Vulgär-Reichianismus echote in der Art, wie das Wort Selbstverwirklichung in damals viel gelesenen Befindlichkeitsbestsellern gebraucht wurde.
Volker Elis Pilgrim kritisierte 1977 genau, das was Charlotte Roche heute fordert, als er über das Schicksal der Frau als Mutter schrieb: „Sie muß endgültig von aller Selbstverwirklichung in Geist und Tat abschwören und sich für zehn bis 20 Jahre auf die Hingabe an das Kind einstellen.“ Der Gedanke, dass Mutterschaft auch eine Art von Selbstverwirklichung – mehr im Plotinschen Sinne – sein könnte, war nach dem Mutterkult der Nazis erst mal undenkbar geworden.
Den Abstieg des Begriffs aus der Philosophie-Geschichte in das Wohngemeinschaftsgelaber markiert dann sein Erscheinen im Zeitgeistbestseller „Der Tod des Märchenprinzen“ von Svende Merian 1980. In diesem lilafeministischen Beziehungsroman wird der Heldin „Kraft in erster Linie für ihre Selbstverwirklichung“ gewünscht. Daneben blieb der alte philosophische Sinn aber weiter erhalten – etwas in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von Jürgen Habermas. Aber die beiden Bedeutungen werden immer ununterscheidbarer.
Die Verwüstungen der sexuellen Revolution
Kritik an der Vergötzung ungehemmter Selbstverwirklichung ist seit mindestens 20 Jahren ein fester Bestandteil aller Abrechnungen mit der Kultur der 68er und Babyboomer. Die Verwüstungen, die ihre sexuelle Revolution hinterlassen hat, beschrieb – damals noch ziemlich einsam in der Wüste rufend – Michel Houellebecq in seinen ersten Romanen. „Ausweitung der Kampfzone“ und „Elementarteilchen“ sind literarisch übersteigerte Abrechnungen mit der Idee ungehemmter Selbstverwirklichung. Bei Houellebecq endet sie mit Satanismus und dem lustvollen Abschlachten von Kindern. Der Franzose litt im wirklichen Leben unter einer ähnlichen Mutter wie Charlotte Roche.
In der polemischen Sicht solcher Modernitätsskeptiker sind Totalitarismus, Drogen, Architektur und Selbstverwirklichung die vier apokalyptischen Reiter, die das 20. Jahrhundert brutalisiert und verhässlicht haben. Sogar Steven Pinker, der der Menschheit insgesamt ein gutes Zeugnis ausstellt und 2011 in einem Buch den weltweiten Rückgang der Gewalt in der Moderne nachweisen wollte, bezeichnet die Sechziger als eine Periode des zivilisatorischen Rückschritts. Er macht die antiautoritäre, antibürgerliche Gegenkultur für den gleichzeitigen Anstieg der Gewaltkriminalität verantwortlich, die mit dem Niedergang der Gegenkultur wieder zurückgegangen sei.
Das Paradoxe war, dass in dieser Gegenkultur Selbstverwirklichung und Selbstauslöschung oft zusammengingen. In der Kommune Otto Muehls in der nach dem Motto „Wollt ihr den totalen Reich?“ Kleinfamilien und Zweierbeziehungen abgeschafft wurden oder in der „Familie“ Charles Mansons trieb gerade ein verquerer Drang nach Selbstverwirklichung die Mitglieder dazu, sich total dem Guru an der Spitze der Hierarchie zu unterwerfen. Der verwirklichte sich dann tatsächlich ziemlich radikal selbst. Selbstverwirklichung ist ein Schneeballsystem. Wenige gewinnen, viele Schwächere verlieren.
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"sie werden lachen - die bibel", meinte bertolt brecht auf die frage, welches buch für ihn das wichtigste der weltliteratur sei.
nach diesem pamphlet hier oben gegen die "selbstverwirklichungs"-bestrebungen der 68er, die ich auch die ehre hatte zu durchlaufen, fiel mir jetzt hier spontan die bibel dazu ein: und da zuerst der satz: "liebe deinen nächsten - WIE DICH SELBST!" - will ja heißen, schon vor 2000 jahren war es der historischen person jesus von nazareth in der überlieferung klar, dass die "selbst-liebe" wohl nur ein anderes wort für "selbstverwirklichung" oder deren positives prozess-ergebnis sein kann - als maßstab wie ich den "nächsten", den mitmenschen egal welcher "couleur", "lieben" lernen kann - achten kann, wahrnehmen kann: wie er sich für mich profiliert - und "gestalt" annimmt.
und übrigens: vor 2000 jahren - das ist verdammt lange vor dieser "postmoderne" ...
und da steht auch noch ein satz: "werdet wie die kinder"um in das reich gottes einzugehen - könnte auch lauten: bleibt so wie in eurer kindheit: lebt euch aus, spielt immer verschiedene möglichkeiten durch im "probehandeln" - dann findet ihr den "kompromiss" und das "licht", das euch aufgeht in der finsternis (...da ging mir ein licht auf...) - und kleine ringkämpfe und rangeleien die dazugehören im sandkasten sind noch lange kein duell auf leben und tod - und kein schützengraben im krieg ...
"selbstverwirklichung" ist also auf der einen seite "ent-wicklung" und "wachstum" - auf der anderen seite aber auch eine rückbesinnung in das eigene werden - auf das eigene ich und sosein - immer wieder neu: selbst-verwirklichung ist also auch die lebenslange geburt - das lebenslange "werden" und "suchen" und "finden" - und "irren" und "ver-irrung" und "heim-kehr" - "rück-besinnung" und "rück-führung" auf den "rechten weg" mit unserem inneren "navi": unserem von gott geschenkten und gelenkten und ausgebildeten "gewissen": das "instinktive" erspüren von "richtig" und "falsch" ...
mit so einem hoppla-hopp-otto-muehl-gegurke kann da einfach noch nicht alles erklärt sein - das kann doch nicht alles gewesen sein: da ist für mich ein "kurzschluss" in dieser abhandlungsskizze - und das an die positiven seiten der dieter duhm-denke in diesem abriss vorbeigegangen wird, ist eigentlich unverzeihlich - auch zu nennen sind z.b. namen wie fritjof capra, humberto maturana, david bohm oder auch an manch kluge weisheiten des bhagwan oder von timothy leary - die bei allem klamauk und glemmer neben ihrer eigenen "selbst-findung" bzw. "selbst-inszenierung" aber auch vielen ihrer ehemaligen sannyasin und schüler den entscheidenden lebens-startschuss mitgaben ...: ja - da versuchten schon einige damals wacker etwas "tiefer" zu gehen - und sie sind als pioniere in sozialpsychologische gefilde vorgestoßen und mit ihren ergebnissen bestimmt genauso wichtig für diesen planeten, wie die milliardenschweren nonsens performance-erkundungen des mars, bei dem es um ein paar "tote" steine geht, in denen sich vielleicht längst vertrocknetes oder verbranntes "leben" befindet ... - na - und ???
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modder
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