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Literaturhinweis Olivier Guez: Mengele


gefühle - was kommt - was geht ...

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Wissen ·  Christoph Drösser

Fahndung im Stammbaum

Mit Genetik und Ahnenforschung klären Ermittler in den USA Gewalttaten auf, die Jahrzehnte zurückliegen




Composing: Ludwig Ander-Donath für DZ (verw. Fotos: Ravani/Polaris/laif; Otto/Getty Images, 2; Handout/Getty Images; FBI Sacramento/Polaris/laif, 3); H.-J. Götz (o.) Foto: F1online

Paul Holes saß in seinem geparkten Auto in Citrus Heights, einem Vorort der kalifornischen Hauptstadt Sacramento, und beobachtete ein Haus auf der anderen Straßenseite. Es war der 29. März dieses Jahres, und der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Costa County stand vor der vielleicht schwersten Entscheidung seiner Laufbahn. Sollte er hinübergehen, klingeln und Joe DeAngelo ins Gesicht sagen, dass er ihn für den seit Jahrzehnten gesuchten Golden-State-Killer hielt? Es wäre die Krönung seiner Karriere gewesen, an seinem letzten Arbeitstag – am nächsten Tag stand seine Frühpensionierung mit 50 Jahren an.

Holes entschied sich gegen einen Showdown in Wildwestmanier. Ein weiser Entschluss, denn DeAngelo, ein Ex-Polizist, hatte mehrere Waffen in seinem Haus gelagert. Holes überließ die Arbeit seinen Kollegen. Die beschatteten DeAngelo in den folgenden Tagen, und als er einmal sein Auto verließ, um in einem Heimwerkerladen einzukaufen, wischten sie eine DNA-Probe vom Türgriff des Wagens. Die Analyse ließ keinen Zweifel: Das Erbgut war identisch mit jenem, das der berüchtigte Serienkiller und Vergewaltiger in den 80er-Jahren bei seinen Taten zurückgelassen hatte. DeAngelo leistete keinen Widerstand, als die Fahnder ihn verhafteten. Im September soll sein Prozess beginnen.

Der reine DNA-Abgleich war polizeiliche Routinearbeit. In den letzten Jahrzehnten ist die Labortechnik immer weiter verfeinert worden, selbst aus winzigen Spuren wie einem Fingerabdruck oder einem achtlos weggeworfenen Kaugummi können die Ermittler Erbgut isolieren und es mit anderen Proben vergleichen. Das Neue in diesem Fall war die Methode, mit der Holes den unbekannten Täter eingekreist hatte.

Bisher war die Polizei machtlos, wenn sie am Tatort zwar DNA-Spuren fand, aber diese DNA nicht von einem Kriminellen stammte, der bereits in den Computern erfasst war. Bei Holes’ Methode dagegen vergleicht man die DNA des Täters mit der von Millionen anderen Menschen und sucht nach möglicherweise weit entfernten Verwandten. Über Familienstammbäume wird dann der Kreis der Verdächtigen eingeengt. Seit der Festnahme DeAngelos boomt das Verfahren in den USA. Eine ganze Reihe weiterer cold cases, also Fälle, die bereits zu den Akten gelegt worden waren, konnten in den vergangenen Monaten auf diese Weise aufgeklärt werden.

Der Golden-State-Killer, benannt nach dem Beinamen des Bundesstaats Kalifornien, hielt die Bewohner von Sacramento und später die von Costa County im Osten der San Francisco Bay ein Jahrzehnt lang in Atem. In dieser Zeit beging er zwölf brutale Morde, 45 Vergewaltigungen und mehr als 100 Einbrüche. Obwohl er an den Tatorten DNA-Spuren hinterlassen hatte, verliefen in den vergangenen Jahren alle Ermittlungen im Sande.

Paul Holes war Mitte der 90er-Jahre auf den Fall aufmerksam geworden. Immer wieder nahm er sich die Akte vor – hatten die Kollegen etwas übersehen? In den letzten zehn Jahren wurde sein Interesse zur Besessenheit. Der Golden-State-Killer beschäftigte ihn 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche. Dann hörte Holes von einem Fall aus dem Bundesstaat New Jersey, bei dem mit genealogischen Methoden nach Jahrzehnten der Fall eines Mörders aufgeklärt wurde, der eine Frau und drei Mädchen auf dem Gewissen hatte. Könnte das auch beim Golden-State-Killer funktionieren?

Die Analyse von DNA wird jedes Jahr billiger, und Millionen von Menschen haben ihr Genom bereits untersuchen lassen. Man schickt eine Speichelprobe an Firmen wie 23andMe.com oder Ancestry.com und bekommt dann eine detaillierte Auskunft über die genetische Abstammung und über das persönliche Risiko für gewisse Erbkrankheiten. Auch nach Verwandten kann man in den Datenbanken der Firmen suchen.

Das zugrunde liegende Datenmaterial bleibt allerdings von außen unzugänglich. Das war zwei Männern in Florida ein Dorn im Auge. Im Jahr 2010 gründeten sie die Website GEDmatch, bei der sich jedermann kostenlos registrieren und eigenhändig ein standardisiertes DNA-Profil hochladen kann. Selbst Daten der kommerziellen Dienste lassen sich nutzen. Die hier entstehenden sogenannten SNP-Profile sind erheblich detaillierter als die DNA-Daten, über welche die Polizei verfügt. Zum Beispiel enthalten die SNPs (Single Nucleotide Polymorphism) Informationen über genetisch bedingte Eigenschaften wie Haut- oder Augenfarbe.

Bei GEDmatch sind etwa eine Million Nutzer registriert. Wer sein DNA-Profil hochlädt, kann über die Datenbank Menschen finden, die mehr oder weniger nah mit ihm verwandt sind. Das nutzte Paul Holes für seinen Trick: Er schrieb sich bei der Seite unter einem Decknamen ein und lud die Gen-Daten des Golden-State-Killers hoch.

Im Idealfall wäre natürlich der Täter selbst in der Datenbank. Das System findet aber auch Verwandte, teilweise sehr weit entfernte: Mit unseren Eltern und unseren Kindern teilen wir 50 Prozent der Basenpaare in einem SNP-Profil, mit Oma, Opa, Tante und Onkel jeweils 25 Prozent. Auch weiter entfernte Familienmitglieder kann man so entdecken. Im Fall des Golden-State-Killers bekam Holes gleich mehrere Treffer ausgespuckt. Keine nahen Verwandten des Täters, aber Cousins und Cousinen dritten Grades – Menschen, die ein Ururgroßelternpaar mit ihm gemeinsam haben.

Es wäre nicht sinnvoll, diese Menschen zu kontaktieren und nach gewalttätigen Verwandten zu fragen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kennen sie den Täter überhaupt nicht. Im nächsten Schritt untersuchten die Ermittler stattdessen Familienstammbäume, die es inzwischen in großer Zahl frei zugänglich im Internet gibt. Zunächst einmal ging die Reise zurück in die Vergangenheit: In diesem Fall mussten sämtliche Ururgroßeltern der gefundenen Personen ermittelt werden, jeweils acht Paare, die irgendwann im 19. Jahrhundert lebten. Dann geht man wieder vorwärts in der Zeit und bestimmt, soweit es möglich ist, alle Nachkommen all dieser Ururgroßeltern – eine riesige Zahl. »Die Familien hatten damals alle 15 Kinder«, sagt Holes.

Eingeschränkt wird diese Zahl aber dann, wenn die in der Datenbank gefundenen Personen nicht miteinander verwandt sind. Denn das bedeutet, dass sich irgendwann im Verlauf der Zeit zwei Mitglieder der unterschiedlichen Familien gepaart haben müssen – und in deren Nachkommenschaft ist der Täter zu suchen.

Aber auch jetzt lieferte der Computer noch keinen eindeutigen Verdächtigen. Die betroffenen Menschen mussten identifiziert und bewertet werden. »Wir suchten«, erzählt Paul Holes, »nach einem Mann, in einem gewissen Zeitraum geboren, mit einer Verbindung nach Kalifornien, zwischen 1,72 und 1,78 Meter groß.«

Mit traditionellen Ermittlungsmethoden konnte nun die Zahl der Verdächtigen auf eine Handvoll reduziert werden. Zwei davon waren Brüder, bei denen sich keine Verbindung zu Tatorten herstellen ließ. Ein weiterer Kandidat sah sehr vielversprechend aus, ließ sich jedoch aufgrund der DNA-Probe eines nahen Verwandten ausschließen. Schließlich lief alles auf einen Verdächtigen hinaus. Die Schlinge um Joseph DeAngelo zog sich zu.

Die Nachricht war das Signal, auf das CeCe Moore gewartet hatte. Die 49-Jährige, die im Süden Kaliforniens lebt, hatte sich im Selbststudium Kenntnisse in Genealogie und Genetik angeeignet, die sie bis dahin vor allem in der Familienforschung angewandt hatte. Ihre Facebook-Gruppe TheDNADetectives hat 90.000 Mitglieder, in der Fernsehsendung Finding Your Roots auf dem öffentlichen Sender PBS half sie adoptierten Kindern, ihre leiblichen Eltern zu finden.

Die Methode, die sie dabei anwandte, war identisch mit der von Paul Holes. Und schon des Öfteren hatte sie darüber nachgedacht, die GEDmatch-Daten dazu zu nutzen, Gewalttäter zu identifizieren. Die Suche war unter Genealogen umstritten, weil dabei die genetischen Daten unbeteiligter Menschen ohne deren Zustimmung ausgewertet werden. Nun aber war die Methode publik geworden, und der große öffentliche Aufschrei war ausgeblieben. Ab sofort musste jeder, der seine Gen-Daten öffentlich zugänglich machte, damit rechnen, dass sie auch für polizeiliche Zwecke genutzt werden könnten, sagte sich CeCe Moore.

Sie tat sich mit der Firma Parabon NanoLabs im Bundesstaat Virginia zusammen, die ihre Dienste bereits der Polizei anbot und zum Beispiel Phantombilder aus DNA-Spuren rekonstruierte. Zwei Wochen nach der Festnahme des Golden-State-Killers hatte die Firma ein »Paket« geschnürt, das sie Strafverfolgern anbot: 5000 Dollar für den Versuch, einen Mörder mithilfe der genetisch-genealogischen Methode zu ermitteln.

Noch im Mai löste CeCe Moore innerhalb von zwei Tagen ihren ersten »kalten« Fall. Vor 20 Jahren war ein junges kanadisches Pärchen während eines Urlaubs im US-Staat Washington brutal ermordet worden. Moore fand zwei Täter-Verwandte (siehe Grafik) und konnte den heute 55-jährigen mutmaßlichen Mörder identifizieren. Er hatte bis dahin ein völlig unauffälliges Leben geführt.

Die Firma Parabon hat seither nach eigener Auskunft in mehr als 150 scheinbar aussichtslosen alten Kriminalfällen die genetische Genealogie eingesetzt. In der Hälfte der Fälle fand man Verwandte, und neben dem Golden-State-Killer konnte mittlerweile in sieben weiteren Fällen ein Tatverdächtiger ermittelt werden. Die neue Technik erweitert das Polizeiarsenal auf ungeahnte Weise. Denn Genetiker schätzen, dass für jeden vierten weißen Einwohner der USA zumindest ein Verwandter zweiten Grades in der GEDmatch-Datenbank zu finden ist – und jeden Tag werden es mehr.

Die Betreiber von GEDmatch wurden von der Entwicklung völlig überrascht. Einer der beiden Gründer, der in Florida lebende 80-jährige Curtis Rogers, sagt: »Die Idee gefiel mir überhaupt nicht.« Das Liebhaberprojekt war nicht als Fahndungsinstrument entwickelt worden. Ihm war das moralische Dilemma bewusst: das Dingfestmachen von Schwerkriminellen versus Schutz der Privatsphäre der GEDmatch-Mitglieder, die nicht einmal mitbekommen, dass sie bei der Aufklärung von Mord und Totschlag mitwirken.



Rogers hätte nun – wie einige der kommerziellen Gen-Datenbanken – eine Erklärung abgeben können, dass er keine Daten an die Polizei weitergibt. »Aber das wäre Blödsinn«, sagt er. Nicht einmal er selbst kann kontrollieren, ob Ermittler Profile von Verdächtigen unter falschem Namen in seine Datenbank einspeisen. Bis heute hat kein Strafverfolger mit ihm geredet, und auch die Aktivitäten von CeCe Moore und Parabon laufen ohne seine Beteiligung ab. Außerdem betont der Ermittler Paul Holes, dass er und seine Kollegen das verbriefte Recht haben, in schweren Fällen auch verdeckt zu ermitteln.

Um wenigstens Transparenz zu schaffen, hat Rogers die Teilnahmebedingungen für GEDmatch geändert. Dort wird nun den Strafverfolgern ausdrücklich gestattet, die Datenbank zur Aufklärung von Tötungs- und Sexualdelikten zu nutzen. »Wir glauben, dass ein gut informierter Nutzer der beste Weg ist, damit umzugehen. Soll der Markt entscheiden, ob die Leute unsere Website weiterhin nutzen wollen.« Und der Markt hat entschieden: Nur an einem einzigen Tag in den vergangenen Monaten war die Zahl der Abmeldungen auf GEDmatch höher als die der Neuanmeldungen. Seitdem steigen die Nutzerzahlen wieder, um etwa 1300 pro Tag. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die genetischen Daten der GEDmatch-Nutzer mitnichten frei einsehbar sind. Sie sind verschlüsselt, und nicht einmal die Seitenbetreiber können sie sehen. Wer hier nach Verwandten sucht, bekommt lediglich die Information, wie stark seine SNP-Daten mit denen anderer Nutzer übereinstimmen.

Dass die neue Methode bald auch zur Verfolgung von Bagatellverbrechen genutzt wird, muss schon aus praktischen Gründen niemand befürchten. »Die Sache ist arbeitsintensiv und erfordert eine gewisses Expertenwissen, sodass man das nicht auf harmlosere Verbrechen anwenden wird«, beschwichtigt Holes. »Bei gewöhnlichen Diebstählen macht man ja auch keine konventionelle DNA-Analyse.«

In Deutschland wäre allerdings schon die Zulässigkeit einer Datenbank wie GEDmatch fraglich. »Dabei handelt es sich ja nicht nur um die eigenen Daten, sondern auch um die der direkten biologischen Verwandten«, sagt der frühere schleswig-holsteinische Datenschützer Thilo Weichert. Und auch die verdeckten Ermittlungen wären zumindest fragwürdig. »Für die polizeiliche Recherche bedürfte es meines Erachtens einer expliziten gesetzlichen Grundlage.«

In den USA dagegen ist keine Datenschutzdebatte aufgekommen. Curtis Rogers erzählt von Hunderten von positiven Zuschriften. Eine ganz knappe ging ihm besonders ans Herz. Sie kam von einer Frau: »Ich möchte, dass meine DNA auf Ihrer Website so sichtbar wie möglich ist«, schrieb ihm die Frau. »Mein Vater war ein Serienmörder, und ich möchte dazu beitragen, dass jeder, der von seinen Taten betroffen war, mit der Sache abschließen kann.«

www.zeit.de



STRs und SNPs 
In DNA-Banken der Polizei werden Profile aus STRs (Short Tandem Repeats) genutzt. Das sind kurze Sequenzen, die hintereinander wiederholt in der DNA auftauchen. Sie können einen Spurenleger identifizieren, geben aber keine Auskunft über dessen Eigenschaften. Das FBI hat 16 Millionen STR-Profile gespeichert. 
In den modernen Genotypisierungsdatenbanken wie 23andMe ist mehr persönliche genetische Information gespeichert: mehrere Hunderttausend SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms), bei denen ein einziges Basenpaar von der Norm abweicht. Anhand der Übereinstimmung dieser SNP-Profile lässt sich sehr verlässlich der Verwandtschaftsgrad zweier Personen abschätzen.

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da ich selbst auch eine globale "genealogy"-seite betreibe, in deren forschungen und erkenntnisse zu meinem familienstammbaum es nur langsam vorangeht, da sich immer wieder "blinde flecken" auftun, kann ich den eifer und das unbedingte "wissen-wollen" verstehen, dem der polizist paul holes in dem oben gelösten fall ausgesetzt war.


youtube-video zur fahndung nach meinem "spitzen-ahn" ...

jedoch - an (m)einen genetischen fingerabdruck habe ich mich (noch) nicht herangetraut, da er mir zu nahe mit der eugenik und erblehre der nazis verwandt scheint. mit solchen genetischen trugschlüssen hat man ja auch meine tante erna kronshage traktiert bei ihrer zwangssterilisation als auftakt zu ihrer dann erfolgten"euthanasie"-ermordung 1944.

damals wurde im nachhinein auf der zu diesem zweck erstellten ahnentafel ein fast ambulant zu nennender einmaliger 4-wöchiger klinikaufenthalt von erna's schwester frieda aufgrund eines erregungszustandes am arbeitsplatz kurzerhand von den ärzten in der provinzial"heil"anstalt gütersloh aufgrund der die "wissenschaft" bestimmenden nazi-erblehre zu einer "schizoiden" entgleisung umgedeutet, um so die diagnosestellung "schizophrenie" für erna kronshage genetisch selbst zu untermauern.

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fahndung per stammbaum in nazi-deutschland - (siehe hier)


natürlich waren die auswertungskriterien damals noch gar nicht gegeben - und was man heute "schwarz auf weiß" im mikroskop und im auszähl-computer-programm sehen kann, wurde damals per annahme und folgerungen "erschlossen".

trotzdem - traue ich heutzutage dieser methode noch nicht so richtig - und während die usa schon von den bemühungen der mormonen als glaubensgemeinschaft mit einer nachträglichen taufpraxis ihrer vorfahren her genealogisch gut durchforscht ist - mit einer fülle von stammbäumen und vollständig erforschten genealogien - ist das im kriegsgeschüttelten europa mit all seinen migrationswanderungen auch rein oberflächlich betrachtet durchaus schwieriger, zumal meine abwehr und scheu auch in deutschland auch insgesamt verbreitet scheint aufgrund der geschichte.

die stammbäume in den usa umfassen ca. eine epoche von 300 - 400 jahren und sind aufgrund der steuerlisten und dergleichen ziemlich komplett - während in europa eine einigermaßen "seriöse" genealogie meist nur bis zum ende des dreißijährigen krieges 1648 zusammenzustellen ist.

und auch die den amerikanern innewohnende "siedlermentalität", an deren anfang ja meist ein freiwilliger aufbruch "auf zu neuen ufern" stand, ist als motivation zu heutigen genetischen familienerforschungen und massentests mit zu nennen.

um "schwere jungs* und mädchens" endlich ihrer bösen taten zu überführen ist eine solche fahndungsvorgehensweise natürlich legitim ...


(n)irgendwo

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(n)irgendwo - S!|art


manche pfade enden im (n)irgendwo
selbst das gps-system kann keinen
"standort" finden ...
erbrochene gehäuse und aufgerissene
uferböschungen
und bäume, die sich klebrig 
wie spinnennetze gebärden

in diesem sommer ist alles anders
unwetter ist keinwetter - nichtwetter
und doch sagen alle:
wetter ist immer ...
durch die fugen spürst du die brise
ein luftzug durchzieht die stehende schwüle
ein winziger funke nur ...

und ...



sinedi


neue blog-adresse abspeichern: https://sinedi-blog.blogspot.com/

alles so schön bunt hier

bedeutungsvoll - das bedeutet mir nichts




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„BEDEUTUNGSVOLLES LEBEN“

„Fakt ist, dass [einige] alte Menschen physisch, geistig und emotional abbauen“

Von Mareike Kürschner
Redakteurin | DIE WELT

Vor vier Jahren hat der Onkologe Ezekiel Emanuel mit der Erklärung Furore gemacht, nicht älter als 75 Jahre werden zu wollen. Er meint, danach sei kein bedeutungsvolles Leben möglich. Gilt das immer noch?

Wie alt sollten Menschen werden? Der amerikanische Onkologe und Medizinethiker Ezekiel Emanuel meint: 75 Jahre. Danach nehme die Fähigkeit ab, erfüllende Arbeit zu leisten und bedeutsame Beziehungen zu führen. Das werde sich auch in naher Zukunft nicht ändern.

WELT: Sie haben vor vier Jahren einen viel beachteten Essay verfasst mit dem Titel „Warum ich mit 75 sterben will“. Jetzt sind Sie fast 61. Haben Sie Ihre Meinung seitdem geändert?

Ezekiel Emanuel: Nein, warum sollte ich sie ändern? Ich stimme der Aussage heute sogar noch mehr zu als vor vier Jahren. Die Daten, die ich dazu habe, bestärken mich immer mehr.

WELT: Warum ist es so wenig erstrebenswert für Sie, älter als 75 zu werden?

Emanuel: Ein bedeutungsvolles Leben enthält drei Komponenten: bedeutsame Arbeit für das Individuum, bedeutsame Beziehungen und Spaß, sei es durch Reisen, Kochen, Malen oder andere Hobbys. Diese Komponenten nehmen im Alter ab. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die nach dem 70. Lebensjahr noch bedeutsame Arbeit leisten. Sie erfordert geistige, aber auch physische Fähigkeiten. Auch bedeutsame Beziehungen erfordern gute kognitive Fähigkeiten.

WELT: Was sagen die Statistiken zum Alterungsprozess?

Emanuel: Wenn man sich anschaut, wie Menschen altern, sehen wir einen physischen Verfall. Das Ideal, dass wir altern und dabei jung bleiben, wird nicht getragen von den Daten, die wir über den Alterungsprozess der Menschen haben. Natürlich gibt es Ausnahmen, allerdings habe ich selbst nur fünf Menschen in der Menschheitsgeschichte gefunden, die noch nach dem 75. Lebensjahr produktiv waren: Benjamin Franklin, Verdi, Michelangelo, Goethe und Sophokles. Vielleicht habe ich auch welche vergessen, aber es ist trotzdem nur eine Minderheit. Schauen Sie sich im Vergleich dazu die Alzheimerzahlen an – die schießen in die Höhe. Zwischen dem 75. und dem 85. Lebensjahr haben 33 bis 50 Prozent der Menschen eine Form von Demenz.

WELT: Die Menschen haben also ein falsches Bild vom Altern?

Emanuel: Natürlich streben wir alle danach, so lange wie möglich zu leben. Wir sind biologisch so gepolt. Und wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, über unsere biologischen Möglichkeiten hinauszugehen. Aber wenn Menschen davon sprechen, eine lange Zeit zu leben, dann denken sie, dass sie so leben werden wie in ihren 40ern und 50ern. Doch Fakt ist, dass sie physisch, geistig und emotional abbauen. Wir haben nicht vor Augen, dass wir in einem Pflegeheim enden können oder anderweitig Hilfe brauchen. Das ist auf jeden Fall kein Zustand, den ich erleben möchte.

WELT: Sie wollen mit 75 sterben. Denken Sie daran, Ihr Leben zu beenden?

Emanuel: Nein, nur weil ich sage, ich will nicht so lange leben, heißt das nicht, dass ich mir das Leben nehmen werde oder dass ich Sterbehilfe befürworte. Ich werde nur nach dem 75. Lebensjahr keine medizinischen Eingriffe mehr durchführen lassen, die allein dazu dienen, mein Leben zu verlängern: Darmspiegelung, cholesterinspiegelsenkende Pillen, eine eventuelle Chemotherapie – darauf werde ich verzichten. Das bedeutet aber nicht, dass ich meinen Oberschenkel nicht behandeln lassen würde, falls ich ihn mir breche. Meine Philosophie ist: Jeder sollte darüber nachdenken, ob er nach dem 75. Lebensjahr durch sämtliche Möglichkeiten, die es gibt, sein Leben verlängern will.

WELT: Finden Sie es nicht seltsam, dass ein Arzt, der seine ganze Karriere um das Wohl von Patienten bemüht ist, meint, das Leben sollte mit 75 enden?

Emanuel: Ich finde das sogar sehr schlüssig. Ich habe Jahrzehnte damit verbracht, die Sterbebegleitung für Menschen zu verbessern. In dieser Zeit bewerten wir unser Leben neu. Viele Menschen erkennen oft erst dann, dass ihr Leben keine Aneinanderreihung von unschönen, medizinischen Maßnahmen sein soll. Ich will anregen, dass sie eine Entscheidung treffen und nicht einfach mit dem Strom schwimmen. Zu viele machen genau das. Deshalb wurde der Artikel wohl auch so stark wahrgenommen. Menschen sollten ihre eigene Sterblichkeit konfrontieren und hinterfragen, wie sie leben wollen.

WELT: Würden Sie es schätzen, wenn mehr Menschen so denken würden wie Sie?

Emanuel: Ja, denn ich glaube, ich liege mit meiner Einschätzung richtig. Ich habe ja diesen Artikel nicht übers Wochenende geschrieben. Ich denke seit mehr als vier Jahrzehnten über dieses Thema nach – seitdem ich ein Teenager war.

WELT: Leben wir in dem gesündesten Zeitalter, das wir je hatten?

Emanuel: Wir haben definitiv die Spitze erreicht. Es sieht so aus, als ob diese Entwicklung nun wieder zurückgeht, vor allem in Amerika. Die Lebenserwartung ist immens gestiegen, weil wir viele Krankheiten ausgerottet haben: Wir haben die Sterblichkeit bei Kindern unter fünf Jahren reduziert, und wir haben Fortschritte bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfällen gemacht. Ja, wir leben lange, wir leben mit weniger Ängsten um unsere Gesundheit, uns geht es besser als je zuvor. Trotzdem gibt es ein Limit.

WELT: Sie schreiben, dass es eine Zunahme der Lebenserwartung mit Krankheiten gibt und eine Abnahme der Jahre ohne Krankheiten.

Emanuel: Das ist ein Fakt.

WELT: Sind sich Ihre Patienten dessen bewusst?

Emanuel: Ich hatte lustige Unterhaltungen dazu – mit Personen, die 120 werden wollen. Dann frage ich immer: „Bist du dir sicher? Denn du bekommst nicht mehr von der Zeit, die du als 50- oder 60-Jähriger verbracht hast. Du bekommst mehr Zeit, in der du Schwierigkeiten hast, aus einem Stuhl aufzustehen oder dich zu konzentrieren. Und so willst du 20 Jahre mehr leben?“ Darüber denken die Menschen einfach nicht nach. Besonders in Amerika haben wir die Idee verkauft, dass wir alle vor allem retten können. Doch wir werden eben nicht jeden vor dem geistigen Rückgang retten können.

WELT: Für Ihre Kinder könnte das einmal anders sein. Bis dahin könnten Krankheiten wie Alzheimer geheilt sein.

Emanuel: Da bin ich skeptisch. Und es würde auch ein anderes Problem nicht lösen.

WELT: Welches ist das?

Emanuel: Kurz nachdem mein Essay herauskam, veröffentlichte die amerikanische Gesellschaft für Rentner eine riesige Werbung. Sie zeigte zwei Personen, um die 65 oder 70 Jahre alt, wandernd in den Bergen. Ein anderer Artikel beschrieb, was Menschen alles Großartiges in ihren 80ern tun: schnorcheln, Motorrad fahren, Liegestütze. Interessant ist dabei, dass all diese Aktivitäten in die Komponente „Spaß“ fallen. Nichts davon ist bedeutsame Arbeit oder eine bedeutsame Beziehung. Es ist gut, diese Spaßaktivitäten zu haben, um uns Abwechslung im Leben zu bieten zwischen den anderen zwei Komponenten. Aber wenn Kreuzworträtseln, Fahrradfahren und Tauchen zum Lebensmittelpunkt werden, dann nimmt unser Leben an Qualität ab.

WELT: Sie meinen, die Lücke, die auch fehlende Arbeit bei uns hinterlässt?

Emanuel: Wir wissen, dass die Pensionierung einen großen Anteil an dem Niedergang geistiger Funktionen hat, aber das ist nicht alles. Viele wissen einfach nicht, wie sie richtig älter werden wollen, und vor allem, was sie aus ihrem Leben mitnehmen wollen.

WELT: 75 ist für Sie noch 14 Jahre entfernt. Haben Sie eine Liste an Dingen, die Sie noch abarbeiten wollen?

Emanuel: Die Antwort ist Nein. Es gibt noch viele Dinge, die ich gerne machen möchte. Aber es gibt keine Liste: „20 Dinge, die ich noch tun möchte, bevor ich sterbe“ (lacht).

WELT: Versuchen Ihre Kinder Sie noch umzustimmen?

Emanuel: Das tun sie nicht mehr. Ich treffe immer noch auf Leute, die meinen: „Mit 74 wirst du deine Meinung ändern.“ Ich antworte dann, dass sie doch eine Wette mit meinen Kindern eingehen sollen. Die würden sich freuen, wenn es so wäre. Es ist unmöglich, dass ich meine Meinung ändern werde. Mein Vater meinte immer, dass ich warten sollte, bis ich Enkel habe. Einen habe ich jetzt und ich liebe ihn, aber ich denke, ich sollte eine bedeutsame Beziehung zu ihm haben. Vermutlich wird sich diese Fähigkeit verschlechtern. Und ich will nicht, dass er mich in einem klapprigen Zustand in Erinnerung behält.

WELT: Wie wird Ihr Leben denn aussehen, wenn Sie 75 sind?

Emanuel: Ich weiß es nicht. Ich habe aber allerdings etwas Angst davor, wie mein geistiger Zustand sein wird. Nicht, weil ich jetzt Probleme habe, sondern weil ich mir die Daten ansehe. Meine Hoffnung ist, dass meine geistigen Fähigkeiten nicht abnehmen.

WELT: Wie fielen die Reaktionen auf Ihren Artikel aus?

Emanuel: Es gab und gibt drei Arten von Antworten: Einige haben wohl nur den Titel gelesen und halten nichts von meiner Meinung. Nach dem Motto: Jeder, der abstreitet, für immer leben zu wollen, ist ein Idiot. Eine andere Gruppe sind Ärzte, Krankenschwestern und Personen, die Sterbebegleitung angenommen haben oder sich selbst um einen geliebten Menschen am Lebensende kümmern. Sie verstehen meine Argumentation und unterstützen sie.

WELT: Und die dritte Gruppe?

Emanuel: Das ist die, bei der ich ausflippe. Menschen, die am liebsten gar nicht darüber nachdenken wollen: Investmentbanker und erfolgreiche Anwälte beispielsweise. Sie geben vor, dass das alles nicht passieren wird, sie ignorieren den Umstand des Älterwerdens komplett – durch meinen Artikel haben sie wenigstens etwas über das Thema reflektiert.

Zur Person 
Professor Ezekiel Emanuel (geboren 1957) ist ein US-amerikanischer Onkologe und Bioethiker. Er ist Direktor des Instituts für Medizinethik und Gesundheitspolitik an der Universität von Pennsylvania. Er gehörte außerdem zum Beraterteam von Ex-Präsident Barack Obama bei der Reform des Gesundheitssystems („Obamacare“). 
(Foto: Condace diCarlo | welt.de)

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tja - das ist schon harter tobak: ich bin jetzt 71 - und da gesteht mir dieser "experte" ("ich habe ja dafür die einschlägigen zahlen") gerade noch 4 jahre "bedeutsamkeit" zu ...

ach - wenn ezekiel emanuel wenistens selbst schon 85 wäre - und seine feststellungen "rückblickend" am eigenen leibe verspürt und erlebt hätte - aber er erschließt seine "rote lebenslinie" von höchstens 75 jahren aufgrund ihm vorliegender "daten" ... ab dann "lohnt" es nicht mehr: hört - hört ...

in erster linie bin ich nur erschrocken: nicht so sehr, wie mr. emanuel seine persönlichen erkenntnisse sicherlich mit gewinn unter die leute bringt - sondern wie man ihm hinterherläuft - für eine solch makabere story ... auch unsere ach so "seriös" daherkommende "welt" eröffnet ihm dafür ein forum ...



"bedeutungsvolles leben" ist dieses interview überschrieben: vor 75/85 jahren sprachen die nazis da handfest und einfach von "unnützen essern"und"ballast-existenzen" die sie dann nach der eugenischen erblehre auf die spitze getrieben folgerichtig kurzerhand planvoll in kleinteilig fragmentiert gesteuerten massenmord-aktionen "kostensparend" zu hunderttausenden umbrachten: das waren für die nazis auch menschen, die eben zu keinem "bedeutungsvollen (arbeits-)leben" aufgrund ihrer einschränkungen und behinderungen oder auffälligkeiten mehr fähig waren - und adolf hitler konstruierte dafür den begriff "gnadentod" und machte dafür den begriff "euthanasie" völlig verdreht massentauglich: den "guten" und "schönen" - und für ihn gesellschaftlich notwendigen - tod ...

und auch damals waren da ganze heerscharen von top-ausgebildeten jungen ärzten, professoren und "sozial-medizinern", die nicht etwa von den nazis zu den euthansie"-morden "gedrängt" oder gar "gezwungen" wurden - sondern es war wohl eher umgekehrt: "die zahlen" und "die daten" des "zeitgeistes" damals (wie heute bei emanuel) wurden der nazi-partei und ihren schergen von der experten-ärzteschaft nahegebracht, um nun endlich auch "wissenschaftlich begründet" den "volkskörper" ein für allemal "gesunden" zu lassen.

in den überlegungen des mr. professor emanuel sehe ich darum viele parallelen. es geht auch bei ihm um die "leistungsfähigkeit" des menschen: ein leben ist nur dann noch lebenswert, wenn es "bedeutsam" ist, was immer er auch darunter versteht - und nach 75 ist es nicht mehr "künstlich" zu erhalten, ab dann ist man seiner meinung nach quasi zum bitteren dahin-siechtum gesellschaftlich verpflichtet ... - anstatt das individuell von jedem "betroffenen" für sich selbst entscheiden zu lassen, nach eigenem gutdünken und eigenem kontostand - und eigener innewohnender spiritualität ...

eine solche für mich "schiefe""lebenszeit"-argumentation ist in dieser international rechts-populistisch aufgeheizten zeit äußerst gefährlich und beinhaltet viel zündstoff - gerade auch in der diskussion um den gesellschaftlichen "generationen-vertrag" und in der diskussion um "sterbehilfe", aber auch in den gesellschaftlich verdrängten weit über 100.000 abtreibungen pro jahr - oder auch über die im mittelmeer ertrunkenen tausenden "boat people": und erst einmal auf einer solchen immer schieferen ebene angekommen, gibt es dann irgendwann keinen moralischen halt mehr: man rutscht ab - wie eben vor 85 jahren auch schon mal ... - höchste vorsicht also - wenn man am ersten dominostein rührt und wackelt - wer weiß welche kettenreaktionen das nach sich zieht ...  

es geht einfach nicht, das ärzte quasi "berufsethisch" irgendwelche lebens- und leistungsgrenzen ziehen oder formulieren. das können sie meinetwegen persönlich für sich ja gerne tun, aber ihre ethik sollte sie davor bewahren, daraus irgendeine "allgemeingültigkeit" abzuleiten und diese auch noch so wie hier zu publizieren. irgendwelche soziologen und rentenversicherungs-berechner kriegen das bestimmt wieder in den falschen hals ... 

dafür sind ärzte eben ethisch auch gar nicht zuständig und haben auch keine ahnung. ärzte sind dazu ausgebildet, leben praktisch zu erhalten - und eventuell im eingetretenen palliativ-fall im hospiz behutsam den übergang zu unterstützen. 

und es sollte keine medien mehr geben, die - um das sommerloch zu stopfen - diesem schmarren einfach - womöglich gegen honorar - aufgrund irgendeiner vermeintlichen "aufklärungsverpflichtung" hinterherlaufen.

vollends makaber empfinde ich allerdings die tatsache, dass ein solch zweifelhafter wissenschaftler mit einer solchen publizierten meinung auch noch die amerikanische obama-regierung "beraten" durfte in sachen "obamacare" - man hört also tatsächlich schon wieder "höheren orts" auf solche typen ... 


p.s. wehret den anfängen: 1920 erschien bereits eine schrift, die "vorrechnete", was "lebenswert" und "leben-un-wert" war - und dann zum "euthanasie"-massenmord führte ... - und zu dem "bedeutungsvollem leben" im emanuelschen sinne (oben) ist meines erachtens da der weg nicht mehr sehr weit: hoche war auch ein arzt und binding ein jurist ...


1920 (!) erscheint die Broschüre „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“von dem Psychiater Alfred Erich Hoche (geb.1865) und dem Juristen Karl Binding (geb. 1841). 

In ihrem Werk befürworten sie Sterbehilfe bei Todkranken sowie die Tötung ‚Minderwertiger‘, Kranker und Behinderter. Da sämtliche ‚Euthanasie‘- Befürworter und -Durchführende in der NS- Zeit sich auf dieses Buch berufen, sei es im Folgenden kurz inhaltlich geschildert. 

Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Krisenstimmung in Deutschland und ausgehend von der utilitaristischen Denkweise der Kosten- Nutzen- Aufrechnung von Menschen erstellte Hoche einen Katalog, welche Menschen zu den „unheilbar Blödsinnigen“ oder den im „Zustand geistigen Todes“ Befindlichen (Binding/ Hoche, S. 51 f.) gehörten: Personen mit Greisenveränderungen des Gehirns, sogenannte Hirnerweichung (Dementia paralytica), arteriosklerotische Veränderungen im Gehirn und jugendliche ‚Verblödungsprozesse‘(Dementia praecox) (vgl. ebd.); desweiteren Menschen mit groben Mißbildungen des Gehirns, Fehlen einzelner Teile, Hemmungen der Entwicklung während der Fetalphase oder Entwicklungsstillstand bei normal angelegtem Gehirn (vgl. ebd., S. 52). 

Die größte Belastung für die Allgemeinheit stellten die „Vollidioten“ (ebd., S.53) dar, da sie unproduktiv seien und dem Nationalvermögen durch fürsorgerische Leistungen, die sie empfingen, eine ungeheure Kapitalmenge entzögen (vgl. ebd., S. 53 f.): „(...) 

Es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschenhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. 

Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. Unsere Lage ist wie die der Teilnehmer an einer schwierigen Expedition, bei welcher die größtmögliche Leistungsfähigkeit Aller die unersätzliche Voraussetzung für das Gelingen der Unternehmung bedeutet, und bei der kein Platz ist für halbe, Viertels- und Achtels- Kräfte. 

Unsere deutsche Aufgabe wird für lange Zeit sein: eine bis zum höchsten gesteigerte Zusammenfassung aller Möglichkeiten, ein Freimachen jeder verfügbaren Leistungsfähigkeit für fördernde Zwecke. Der Erfüllung dieser Aufgabe steht das moderne Bestreben entgegen, möglichst auch die Schwächlinge aller Sorten zu erhalten, allen, auch den zwar nicht geistig Toten, aber doch ihrer Organisation nach minderwertigen Elementen Pflege und Schutz angedeihen zu lassen- Bemühungen, die dadurch ihre besondere Tragweite erhalten, daß es bisher nicht möglich gewesen, auch nicht im Ernste versucht worden ist, diese Defektmenschen von der Fortpflanzung auszuschließen.“ (ebd., S. 55)

aus: http://www.hilfsschule-im-nationalsozialismus.de/seite-12.html

im wahrsten sinne des wortes: ungeheuerlich und bestialisch

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NS-Opfer Bruno Lüdke: Die Verhöre fanden unter vier Augen statt
Quelle: aus einem ullstein bild | WELT|Geschichte

So starb "der größte Massenmörder der Kriminalgeschichte"

Bis zu 84 Morde gestand der Hilfsarbeiter Bruno Lüdke 1943 im Polizeiverhör. Erst Jahrzehnte später kommt heraus, dass die Aussage falsch war und dass er bei einem diabolischen Experiment zu Tode kam.

Am 29. Januar 1943 machten Kinder beim Spielen im Köpenicker Stadtwald im Südosten Berlins einen grauenhaften Fund. Unweit des Krankenhauses lag, von Kratzern und Hämatomen übersät, die nackte Leiche einer Frau. Die Tote wurde als die 51-jährige Rentnerin Frieda Rösner identifiziert. Sie war brutal vergewaltigt und anschließend mit einem Halstuch erdrosselt worden.

Mit den Ermittlungen wurde der junge Kriminalkommissar Heinrich Franz betraut, der nach einigen Wochen einen Verdächtigen präsentierte: Bruno Lüdke, Hilfsarbeiter und kiezbekannter Dorftrottel aus Köpenick. Im Zuge der Verhöre gab er schließlich zu, seit 1924 insgesamt 84 Morde begangen zu haben. Das machte ihn zum schlimmsten Serienmörder der deutschen Kriminalgeschichte. Erst in den 1990er-Jahren wurden begründete Zweifel an Beweisführung und Verfahren laut. Eine interdisziplinäre Studie an den Universitäten Jena und Siegen hat den Fall jetzt einer umfassenden Revision unterzogen: „Zweifellos war Bruno Lüdke ein NS-Opfer und kein Massenmörder“, resümiert Co-Autor Axel Doßmann vom Historischen Institut in Jena.

Ein Opfer war Lüdke schon Jahre zuvor geworden. Der Sohn eines Wäschereibesitzers war als Kind nach einem Sturz geistig eingeschränkt. 1938 wurde er wegen kleinerer Diebstähle erstmals straffällig. Man erkannte auf geistige Unzurechnungsfähigkeit nach dem damals noch gültigen Paragraf 51 des Strafgesetzbuches und ließ ihm seine Freiheit. Damit aber geriet Lüdke auch in den Fokus des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Eine Zwangssterilisation wurde angeordnet und 1940 auch durchgeführt. Damit teilte er das Schicksal von rund 400.000 geistig und körperlich behinderten Menschen im Dritten Reich.

Bei seinen Ermittlungen stieß Kommissar Franz auf den „doofen Bruno“, der sich als Kutscher verdingte und von dem es hieß, dass er in seiner Freizeit als „Spanner“ durch die Gegend ziehe. Obwohl sich weder die Familie noch die Nachbarn und nicht einmal die örtliche Polizei Bruno als Gewalttäter vorstellen konnten, avancierte Lüdke zum Hauptverdächtigen. Selbst als sich herausstellte, dass das Blut auf einer besudelten Hose offenbar von Hühnern stammte, lud ihn Franz im März 1943 zum Verhör. Die Gewalt, mit der sich Lüdke dabei widersetzte, bestärkte die Polizei nur in ihrem Verdacht.

Lüdke fasste zu dem Beamten, der ihn überwältigt hatte, offenbar Vertrauen und soll bei dessen Anwesenheit in dem Verhörzimmer geradezu redselig geworden sein, wie Bernd Wehner, ehemaliger Leiter der Zentrale zur Bekämpfung von Kapitalverbrechen im Reichskriminalpolizeiamt 1950 in einer Serie im „Spiegel“ schrieb. So berichtete Lüdke von wochenlangen Ausflügen nach Hamburg, Thüringen oder München. Kommissar Franz sah die Chance, mit einem großen Fall seine Position im Haus zu festigen und damit einer möglichen Einberufung an die Front zu entgehen, und begann, Orte und Daten mit ungelösten Fällen zu vergleichen.

Zur Verblüffung seiner Kollegen, die von den Verhören ausgeschlossen waren, um das Verhältnis zwischen Franz und Lüdke nicht zu stören, bekannte sich dieser manchmal binnen weniger Stunden zu neuen Bluttaten, sodass er am Ende für 84 Morde die Verantwortung übernahm. In mehreren Dutzend Fällen zeigten selbst einfachste Recherchen, dass Lüdke die Tat nicht begangen haben konnte. 53 Morde und drei Mordversuche standen am Ende im Protokoll. Einwände aus dem Kollegenkreis bügelte Reichskriminaldirektor Arthur Nebe weg. Gleichwohl kam es nie zu einem gerichtlichen Verfahren.

Obwohl Josef Goebbels als „Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar der Reichshauptstadt Berlin“ in einem Schreiben an den SS-Führer und obersten Polizeichef Heinrich Himmler forderte, „dass der bestialische Massenmörder und Frauenschlächter Bruno Luedke ... seine scheußlichen Verbrechen wenigstens mit einem martervollen Tode sühnen“ sollte und daher bei „lebendigem Leibe“ zu „verbrennen oder vier(zu)teilen“ sei, machte dieser den Vorgang zur Geheimsache und ließ Lüdke ins Kriminalmedizinische Zentralinstitut der Sicherheitspolizei in Wien überstellen.

Geheime Tests mit vergifteter Munition

Dort erkannte man Lüdke als ideales Versuchskaninchen für teuflische Experimente, die die Grundlage für ein neues sozialrassistisches Gesetz gegen sogenannte „Gemeinschaftsfremde“ bilden sollten. „Damit wäre es legal geworden, alle unangepassten Deutschen zu verfolgen und zu ermorden“, sagt der Historiker Axel Doßmann.

Bei einem anderen Versuch kam Lüdke dann am 8. April 1944 ums Leben. In ihrer Studie kommen Doßmann und die Siegener Medienhistorikerin Susanne Regener zu dem Schluss, dass er bei geheimen Tests von vergifteter Munition starb, die für Attentate entwickelt wurde. Doch damit war die Karriere des „Massenmörders Lüdke“ noch nicht zu Ende.

Neben der bereits erwähnten „Spiegel“-Serie von 1950 widmete sich der Publizist Will Berthold 1956 in der „Münchner Illustrierten“ dem „größten Massenmord“. Nach der Serie, die auch als Buch erschien und Berthold zum Bestsellerautor machte, drehte Robert Siodmak den Spielfilm „Nachts, wenn der Teufel kam“, der 1958 immerhin für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert wurde. Dem Bundesfilmpreis war das Werk acht Filmbänder in Gold wert; das für den besten Nachwuchsdarsteller ging an Mario Adorf in der Rolle des Bruno Lüdke. Kritiker lobten den „Menschenbullen, dem die Leiden der gehetzten Kreatur“ widerfuhren.

Erst in den 1990ern erschütterte der niederländische Kriminalist Jan Blaauw nach Analyse der erhaltenen Akten das traditionelle Bild. Lüdke sei Opfer der Suggestivfragen geworden, die Franz ihm gestellt habe und deren Zusammenhänge ihm gar nicht bewusst gewesen seien. Wie, fragte Blaauw, sollte es einem geistig Behinderten möglich gewesen sein, sich im Verhör präzise an Orte, Daten und Details von Morden zu erinnern, die oft Jahre zurücklagen, und sich anschließend den Nachstellungen der Polizei durch geschickte Flucht zu entziehen?

Seitdem mehren sich die Stimmen, die Lüdke von den meisten der von ihm zugegebenen Verbrechen freisprechen. Wahrscheinlich habe er überhaupt keinen Mord begangen. Seine postume Karriere erklären Doßmann und Regener mit der Faszination des Bösen über politische und soziale Brüche hinweg. Als teuflischer Triebtäter, brutal, verschlagen und skrupellos, hätte Lüdke die Erwartungshaltungen des Publikums an das personifizierte Böse befriedigt. Noch heute, so ein Fazit, gerieten geistig Behinderte leicht zum Opfer.

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Das Blut auf seiner Hose stammte von Hühnern: Bruno Lüdke (1908-1944)
Quelle: ullstein bild - Willy Saeger | WELT|Geschichte


→ Axel Doßmann / Susanne Regener: „Fabrikation eines Verbrechens. Der Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“. (Spector Books, Leipzig. 250 S., 38 Euro)

WELT|Geschichte © Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten.

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wenn das eigene leben nichts mehr gilt, wenn es "bedeutungsloser" und "lebens-un-werter" in einer ganz bestimmten phase einer gesellschaftlichen entwicklung und verblendung und allmählichen verwilderung aller moralischen prinzipien wird, dann geschehen solche unfassbaren dinge. 

um der eigenen karriere willen und um nicht an die ostfront in den krieg zu müssen "überführt" in stundenlangen hartnäckigen vernehmungen "unter 4 augen" mit suggestiven unterstellungen der kriminalkommissar heinrich franz den "doofen bruno", den durch einen frühkindlichen unfall geistig eingschränkten bruno lüdke aus köpenick, der schließlich unter dem gehörigen druck und sicherlich aus einem gewissen plötzlichen zweifelhaften "geltungsbedürfnis" heraus zunächst "bis zu 84 morde" eingesteht - und so wird damals endlich eine "bestie" und ein "massen-frauenschänder" gefasst und dingfest gemacht...

und während man in jener zeit klammheimlich selbst bis zu 300.000 kranke, behinderte und normabweichler in raffiniert ausgeklügelten massenabfertigungen in "heil"anstalten liquidiert, wird bruno lüdke auf veranlassung heinrich himmlers dem neu errichteten "kriminalmedizinischen zentralinstitut der sicherheitspolizei" in wien überstellt, um dort "mitzuwirken" als lebendes objekt bei der erforschung perfider tötungsmethoden für den krieg. wobei er dann ebenfalls unweigerlich zu tode kommen musste. sein skelett wurde in die gerichtsmedizinische sammlung des instituts aufgenommen und ging wahrscheinlich in den 1960er Jahren verloren.

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mario adorf als bruno lüdke -
foto: aveleyman
dass man erst im nachhinein in der gesamtschau dieser geschichte erkennen muss, zu wieviel perfider niedertracht und wahnsinn ein unrechtssystem fähig ist, das sich in viele kleine puzzle-teile organisiert und aufgespalten hat, und sich in der eigenen familie, hinter der nachbarschaft, hinter menschen wir du und ich verbirgt - und was sich längst selbst zu einer "bestie" stilisiert und etabliert hat, macht auch noch 75 jahre später erschrocken und betroffen.
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vielleicht stünde es ja mario adorf zu, der mit seiner hauptrolle in einem sensationslüsternen film mit dem reißerischen titel "nachts wenn der teufel kam" zu diesem angeblichen "massenmörder"-thema um bruno lüdke den durchbruch als schauspieler hatte, ganz stickum einen "stolperstein" in berlin-köpenick vor dem letzten bekannten wohnsitz lüdkes legen zu lassen ...

das andenken und die erinnerung an diesem fatalen und ungeheuerlichen "justizirrtum" jedenfalls - diesem echten "fake statt fakt" - in dieser oft minutiös durchorganisierten "fabrikation eines verbrechens" muss bleiben und warnung und hinweis sein ... 


weiße stadt tel aviv - bauhaus in israel

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Die Spuren der Zeit: Etwa drei Viertelder in der Stadt geschützten Gebäude im Bauhaus-Stil sind sanierungsbedürftig.
Fotos: dpa|WB



Kulturerbe verpflichtet

Zum 100. Bauhaus-Jubiläum wird in Tel Aviv renoviert

Tel Aviv(dpa). Tel Avivs Stadtkern im Bauhausstil gehört zum Weltkulturerbe, doch der Zahn der Zeit und das Klima haben der »Weißen Stadt« zugesetzt. Im Vorfeld des 100. Bauhaus-Jubiläums 2019 wird viel renoviert – und die Zusammenarbeit zwischen Israel und Deutschland blüht auf.

Sharon Golan Yaron drückt ge­gen die schwere Tür. Sie klemmt. Das alte Holz hat sich verzogen. »Das bringen wir auch noch in Ordnung«, sagt sie lachend und stemmt die Tür auf. Die in Deutschland geborene Architektin ist Programmdirektorin des Zentrums Weiße Stadt, das sich dem Erhalt der Gebäude im Bauhausstil von Tel Aviv verschrieben hat – eine Mammutaufgabe.

Sie führt hinein ins Max-Liebling-Haus. Es ist eines von etwa 4000 ursprünglich eher sandfarbenen Gebäuden im internationalen Stil, die als »Weiße Stadt« das Zentrum Tel Avivs prägen. Und es ist eine Baustelle. Seit 2017 wird das Max-Liebling-Haus renoviert. Hier soll im kommenden Jahr das deutsch-israelische Zentrum Weiße Stadt dauerhaft unterkommen.

2003 wurden große Flächen Tel Avivs von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannt. Ein Status, der auch zum Erhalt verpflichtet. Laut Golan Yaron gibt es bei etwa drei Viertel der Gebäude dringenden Renovierungsbedarf. Das schwül-heiße Klima mit der salzigen Meeresluft hat einigen Gebäuden über die Jahre zugesetzt. Die Fassaden bröckeln, dazu lag früheren Umbaumaßnahmen nicht unbedingt ein architektonisches Credo zugrunde. Eher individuelle Bedürfnisse der Bewohner, die für Klimaanlagen vor den Fenstern und verrammelte Balkone gesorgt haben. Gerade das macht, so Golan Yaron, aber auch den Charme aus: »Hier gibt es keine einzelnen Ikonen, wie man es aus Europa kennt. In diesen Gebäuden leben Menschen, das sind keine Museen.«

Von außen erstrahlt das Max-Liebling-Haus bereits in gleißendem Weiß. 2019, pünktlich zum 100. Geburtstag des Bauhauses, soll es Besucher über das Vermächtnis dieses architektonischen Stils informieren, den Walter Gropius in Weimar entwickelt hat. »Israel und Deutschland besitzen eine gemeinsame historische und baukulturelle Vergangenheit«, heißt es aus dem Bundesbauministerium, das das Projekt mit drei Millionen Euro über den Zeitraum von 2015 bis 2025 bezuschusst. Während der Nazi-Diktatur in den 1930er Jahren flohen viele europäische Juden in das damalige Palästina. Unter ihnen waren auch einige Architekten, die basierend auf der Idee und dem Know-how des Bauhauses neuen Wohnraum schufen. »Mit der Machtergreifung der Nazis wurde der Entwicklung des Bauhauses in Deutschland ein Riegel vorgeschoben«, analysiert Ronny Schüler von der Bauhaus-Universität Weimar. »Und das Bemerkenswerte ist: In Tel Aviv setzten sich dann aber die Ideen der Moderne fort.« Die emigrierten Architekten entwickelten ihr erlerntes Wissen weiter, probierten Neues aus und erbauten vor allem in Tel Aviv ein weltweit einmaliges Ensemble von Gebäuden in internationalem Stil.

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Wohnhaus im Bauhaus-Stil am Rande des Stadtzentrums.

Neben immateriellen Einflüssen wurden auch ganz handfeste deutsche Produkte in den Häusern verbaut. Bei den Renovierungsarbeiten im Max-Liebling-Haus platzte im Treppenhaus eine Kachel von der Wand. Unter dem spröden Putz war der Name des Fabrikanten zu lesen: Villeroy und Boch – Made in Germany. Deutsche Fliesen und andere Produkte fanden deshalb den Weg auf die Baustellen von Tel Aviv, weil die geflüchteten jüdischen Einwanderer kein Geld aus Deutschland mitnehmen konnten. Eine Vereinbarung mit den Nazis – das Ha’avara-Abkommen – ließ jedoch zu, dass die Vermögen unter hohen Verlusten in Form von Sachwerten ausgeführt wurden.

An den Erhalt des gemeinsamen Kulturerbes knüpft auch der Austausch von Handwerkern zwischen Deutschland und Israel an. Für die denkmalgerechte Sanierung holt man sich beim Zentrum Weiße Stadt gerne die Expertise aus Deutschland.

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wikipedia schreibt: "1932 wurde das Bauhaus als private Einrichtung nach Berlin-Lankwitz verlegt; aber schon kurze Zeit später, 1933, wurde die Institution von den Nationalsozialisten durch Repressalien wie Hausdurchsuchungen, Versiegelung der Räume und Verhaftung von Studenten endgültig zur Selbstauflösung gezwungen.
Viele Bauhausmitglieder emigrierten und trugen so zur internationalen Verbreitung der Ideen des Bauhauses bei."

so kommt es also, dass wir herrliche bauhaus-gebäude als ensemble eher im ausland vorfinden als bei uns. die nazis haben ja in ihrem tötungsrausch in allem bis dahin gültigen und dagewesenen und in ihrem "arischen modernisierungswahn" auch in der kunst ("entartete kunst"), kultur, schrift und sprache radikal gewütet. so verloren wir in deutschland rasch den anschluss an die internationale kulturentwicklung - eine lücke die erst in den 80er jahren wieder geschlossen werden konnte - allerdings mit ein paar eigenständigen "lokalentwicklungen" und durchgangsstadien flankiert, wie zum beispiel "dem deutschen informel" mit künstlern wie gerhard hoehme, bernard schultze, emil schumacher, k. r. h. sonderborg und hann trier.

und als bauhaus-erzeugnisse sind bei uns dann im alltag vielleicht als überbleibsel die lagerfeld-lampe mit dem weißen runden glasschirm zu nennen - aber in der architektur hat man aus schlechtem gewissen heraus nur ein paar wenige highlights nachgebaut - ansonsten "zieren" die innenstädte ja größtenteils beton-kastenbauten, die schnell und billig die trümmerlanschaft des bombenkrieges zu übertünchen hatten, damit in ladenketten rasch wieder "umsatz" gemacht werden konnte.

die nachkriegsarchitektur in der bundesrepublik, noch schlimmer in der ddr, ist ja ein ziemliches desaster. der zerstörung der städte durch die bombenangriffe folgte die zerstörung durch den sozialen wohnungsbau und jener durch ruch- und geschmacklose investoren: wenig investition mit größtmöglicher rendite ...


bis heute leiden deutsche städte ja unter den entsetzlichkeiten – mit weitreichenden sozialen folgen. im schlimmsten fall teilt sich eine stadt wie in paris, wo im altbaulichen, eleganten stadtkern die bourgeoisie wohnt, und abseits der périphérique, der stadtautobahn, in den banlieues die abgehängten und vergessenen. 

unhygienische altbauten wurden abgerissen und gegen platten im westen wie im osten ausgetauscht, in denen es fließend warmes Wasser gab und keine feuchten keller. mehr war nicht gefordert. die Frage nach der schönheit galt als dekadent. wie dumm.

die emigrierten bauhaus-architekten in israel dagegen konnten von "ihrem stil" bei den bauten in tel aviv nicht lassen, der eben hypermodern als gegenentwurf zum "historismus" daherkam, der ja handwerkliche entstandene ornamente nur als industrielle massenfertigung billig kopierte - wie denn ja überhaupt der bauhaus-stil nach den maßgaben ihrer "väter" wie z.b. walter gropius und oskar schlemmer jetzt als eine "arbeitsgemeinschaft" gedacht war, in der die unterscheidung zwischen künstler und handwerker aufgehoben werden sollte. durch ihr schaffen wollten die mitarbeiter des bauhauses gesellschaftliche unterschiede beseitigen und zum verständnis zwischen den völkern beitragen - die entwickelten alltagsgegenstände und die architektur („das endziel aller bildnerischen tätigkeit ist der bau!") sollten "den Menschen dienen" und nicht umgekehrt, was bei der sanierung der bewohnten tel aviv bauhaus-häuser sicherlich manche interessante kompromisse nach sich zog ... die leitsätze im bauhaus orientierten sich daher an sullivans ausspruch "die form folgt der funktion" oder an mies van der rohes leitsatz "weniger ist mehr" - nicht mehr und nicht weniger.

Reisende, Suchende, Vertriebene

Reisende, Suchende, Vertriebene

20 Titel für Buchpreis nominiert – Liste von »poetischer Tiefe«

Biller, Geiger, Hegemann und Klüssendorf: Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises tauchen bekannte Namen auf. Anders als im Vorjahr dominieren dieses Mal die Frauen.

Beim Wühlen durch 199 neue Romane habe die Jury »überraschende Entdeckungen« gemacht, sagt Sprecherin Christine Lötscher.

»Die Lage der Welt scheint den deutschsprachigen Autorinnen und Autoren auf den Nägeln zu brennen«, sagt Lötscher. »Ihre Romane versuchen diese Fragen in der ganzen poetischen Tiefe auszuloten, indem sie ihre Figuren als Reisende, Suchende oder Vertriebene ihre Vergangenheit und Gegenwart erkunden lassen.«

Aus diesen 20 Büchern wird nun die sechs Titel umfassende Shortlist kreiert. Diese wird am 11. September veröffentlicht, bevor dann am 8. Oktober zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse die Siegerin (?) verkündet wird.

Textbausteine aus: WESTFALEN-BLATT, Nr. 188, Mittwoch 15.August 2018 - S.14 (dpa).




Die nominierten Autoren mit ihren Romanen

  • Carmen-Francesca Banciu: Lebt wohl, Ihr Genossen und Geliebten!
  • María Cecilia Barbetta: Nachtleuchten
  • Maxim Biller: Sechs Koffer
  • Susanne Fritz: Wie kommt der Krieg ins Kind
  • Arno Geiger: Unter der Drachenwand
  • Nino Haratischwili: Die Katze und der General
  • Franziska Hauser: Die Gewitterschwimmerin
  • Helene Hegemann: Bungalow
  • Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen
  • Angelika Klüssendorf: Jahre später
  • Gert Loschütz: Ein schönes Paar
  • Inger-Maria Mahlke: Archipel
  • Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich
  • Adolf Muschg: Heimkehr nach Fukushima
  • Eckhart Nickel: Hysteria
  • Josef Oberhollenzer: Sültzrather
  • Susanne Röckel: Der Vogelgott
  • Matthias Senkel: Dunkle Zahlen
  • Stephan Thome: Gott der Barbaren
  • Christina Viragh: Eine dieser Nächte
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für mich ist das mit dem buchpreis jedes jahr fast so spannend wie der beginn der fußball-bundesliga-saison. und doch: ich weiß ja - oder glaube zu wissen - hinter einer solcher auswahl stecken auch marktstrategische überlegungen - und nicht nur literarische oder poetische klasse: nach welchem proporz wird da gewählt - und wer fliegt raus???

für mich ist das so ähnlich wie beim arzt, wenn der für irgendein "wehwehchen" den rezeptblock zückt oder die verordnung ausdrucken lässt: da mischt im hintergrund der pharmavertreter mit, der gestern ein kleines präsent dagelassen hat, und das verschreibungs-"budget" der kassen ... - und bei den büchern auf der longlist - und dann auf der shortlist - und zum schluss beim kreieren des buchpreises mischt sicher auch die verlagslobby mit - und die lizenzabteilungen, die die rechte ins ausland verscherbeln könn(t)en, und die literatur- und autorenagenturen und die diskussion um amazon und thalia und den kleinteiligen buchhandel vor ort - und die werbebranche und - und - und - ja und dann geht es ja auch noch um 'literatur' - von interessegeleiteten menschen für interessegeleitete menschen gemacht

und mal ganz ehrlich - und im vertrauen: die letzten preisträger oder shortlist-erwählten, die ich mir tatsächlich nach dem jedes jahr so spannenden kampf gekauft habe, habe ich fast alle nur bis zur hälfte "mit genuss" gelesen ...

für mich sind diese dicken raffiniert ausschwafelnden wälzer nichts - da kommt mir dann die jeweilige aktualität hier als blogger und meine eigenkreativen ambitionen in die quere und schütten dann meine hehre motivation einer weiteren "lektüre" einfach zu ...

da ich ein paar titel auch online gekauft habe auf dem kindle, wird amazon das mit einem click auf meinem kindle-konto auch bestätigen können.

und auch die "stichworte" dieser longlist 2018"reisende, suchende, vertriebene"reißen mich ja nun nicht vom hocker: das kann ich jeden tag haben, wenn ich mein spiegel-plus oder mein welt plus gold oder gar mein nytimes.com-konto oder die sz oder die "zeit" neben meinen beiden heimatzeitungen anknipse - und zwar ganz in echt und live und gut recherchiert - und die auswahlkriterien bestimme ich - natürlich nach dem die dazugehörenden redaktionen ihre jeweilige veröffentlichungs-priorität gesetzt haben...

überhaupt frage ich mich, ob ein rasches billiges und leider auch von sozialen netzwerken mit fake news durchseuchtes aber einigermaßen selbstbestimmtes computergestütztes infotainment in echtzeit nicht meinen literatur-bedarf längst abgelöst hat. 

okay - das ist schnelllebiges ex und hopp - aber das läuft im literaturbetrieb ja zu genüge bei dem ausstoß von rund achtzigtausend neuen veröffentlichungen im jahr - und wie wir sehen, denkt sich die autorenschaft zum größten teil zeitgemäß und marktgerecht nun auch literatur- und poesiewürdige aber auch pekuniär "gängige news" aus - gut - okay: gutkomponiert ist noch lange kein "fake" ...: aber ein eigentlich von mir zu erfüllendes multisinnliches agieren bringt mir nichts: (kopfhörer und headphone und handy und buch und tv etwa gleichzeitig - beim autofahren schon gar nicht) und das alles hintereinander kostet auch immer meine lebenszeit und und meine überweisung an amazon-kindle oder thalia ...




Sie schreibt nur, wenn sie sich nicht mehr zu helfen weiß - Herta Müller wird 65

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S!|art: herta müllers schreibhemmung

Angst vor dem Schreiben

65. Geburtstag: Herta Müller ist mit Auskünften über sich zurückhaltend

Von Nada Weigelt

Wohl kaum jemand hat die Grauen einer Diktatur so schonungslos und zugleich poetisch beschrieben wie Herta Müller. Sie zeichne „Landschaften der Heimatlosigkeit“, befand die Jury, die ihr 2009 den Literaturnobelpreis zusprach. Heute wird die rumäniendeutsche Autorin 65 Jahre alt. Nach den Erfahrungen im Ceausescu-Regime ist der Kampf gegen Unterdrückung, der Einsatz für Freiheit und Menschenrechte ihr wichtigstes Anliegen geblieben.

S!|art nach einem Foto von Soeren Stache | dpa

„Ich kann mich nicht wegschleichen und will mich nicht täuschen, sondern das ertragen, was ich sehe“, sagte sie einmal. So setzte sie sich für die Freilassung der Witwe des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo ein, forderte eine Anerkennung der Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord und kämpft für ein Exilmuseum in ihrer Wahlheimat Berlin. Es soll die Erinnerung an die Hunderttausenden Deutschen wachhalten, die während der NS-Zeit ins Ausland fliehen mussten.

Einen neuen Roman hat die Autorin seit ihrem Meisterwerk „Atemschaukel“ 2009 und dem Literaturnobelpreis im selben Jahr nicht mehr vorgelegt. „Sie hat Angst vor dem Schreibprozess“, sagt ihr früherer Mann, der Schriftsteller Richard Wagner, in einem der raren TV-Porträts, für das sich Müller 2014 dem Bayerischen Rundfunk öffnete. Und der Autor und langjährige Freund Ernest
Wichner ergänzt: „Sie schreibt nur, wenn sie sich nicht mehr zu helfen weiß.“

Müller selbst ist trotz ihres Ruhms mit Auskünften über sich zurückhaltend; auch zu ihrem Geburtstag lässt sie sich nicht zu einem Interview überreden. Stattdessen widmet sie sich zunehmend der heiter-subversiven Schnipsel-Poesie. Das sei die sinnlichste Form des Schreibens, sagt sie. Mit Schere und Klebstoff entstehen aus einzelnen ausgeschnittenen Wörtern poetische Collagen.

Neue Westfälische, Kultur/Medien, Freitag, 17.August 2018 - Nr. 190/33

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collagen-gedicht aus: herta müller | vater telefoniert mit den fliegen, hanser 2012



nektargebräu

eines lebens lauf - mittendrin




"ei(ge)ntlich"  - das war sein lieblingswort
also eigentlich war er immer gut drauf
doch erstarb oft sein zu lautes lachen - mittendrin

er rief nicht - er schrie zur begrüßung
und er wollte so gern dazugehören
er machte spritztouren - bis nach amsterdam
und bugsierte seine schwester mit ins auto:

mit der kann man geld machen in amsterdam -
wenn du verstehst was ich meine
aber dann erstarb sein verschlagenes grinsen
sofort wieder - wenn die moral ihn durchflutete

eines morgens baumelte er dem pfarrer
just vor dem fensterkreuz -
am ast eines apfelbaums hangend

er habe wohl lange gelitten -
ergab die obduktion
denn selbst umbringen will auch gelernt sein

und der gerichtsmediziner
konnte nicht verstehen,
weshalb der pfarrer das röcheln
nicht hatte wahrgenommen
die ganze zeit
im langen todeskampf
das röcheln - das dann erstarb - mittendrin

und wir haben doch noch kleine kinder
zürnte der pfarrer: die hätten ja
alles mitkriegen können
ja - ach er weiß ja gar nicht,
was er uns damit angetan hat - 
im nachhinein ...

aber auch dieser heilige zorn
erstarb dann - mittendrin

sinedi


können "lebenszeichen" noch wachrütteln ?

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„Meine Freunde sitzen draußen und trinken Aperol Spritz, und ich sitze zu Hause und beschäftige mich mit dem Holocaust“: die Filmemacherin Alexa Karolinski - nach: © Salzgeber & Co. Medien GmbH

ALEXA KAROLINSKI

„Ich suche meine Antworten nie in Religion“

Was denken spielende Kinder am Holocaustmahnmal? Die Regisseurin Alexa Karolinski hat mit „Lebenszeichen“ einen Film über die Schoah gemacht. Die Autorin Julia Zange hat sich mit ihr unterhalten.

Von Julia Zange

Alexa Karolinski und ich sind uns das erste Mal bei einem geheimen Treffen zu einer Magazingründung begegnet. Das war vor über zehn Jahren, an einem Küchentisch in Berlin-Neukölln, in einer bunten internationalen Runde junger Künstler und Schreiber. Das Magazin gibt es nicht mehr, aber wir sind uns seitdem immer wieder über den Weg gelaufen. Alexa führte Regie bei einem Musikvideo, in dem ich mitspielte. 2014 zog sie zusammen mit ihrem Mann nach Los Angeles. Ich bin ein Nesthocker und wohne nach wie vor am Paul-Lincke-Ufer. 2016 drehte Alexa den Buchtrailer zu meinem Roman „Realitätsgewitter“. Und ein Jahr später spielte ich eine Rolle in ihrem Kurzfilm für „Vogue Italia“.

Uns verbindet eine Leidenschaft für den Medientheoretiker Siegfried Zielinski, bei dem ich studiert und meine Bachelor-Arbeit geschrieben habe. Alexa hat ihn sowohl für „Lebenszeichen“ interviewt als auch sich filmisch an seinen Ideen der „Anarchive“ orientiert – einer Anordnung von geschichtlichem Material, bei dem die Lebendigkeit nicht verloren gehen soll. Alexas Film ist anders als viele Dokumentationen über die Schoah – er spürt im Hier und Jetzt, im Gespräch mit Freunden und Freundinnen, mit Familie und Zufallsbekanntschaften, assoziativ und offen dem Horror der Geschichte nach.

WELT AM SONNTAG: Dein neuer Film „Lebenszeichen“ hat am 23. August Premiere. Freust du dich auf Berlin?

Alexa Karolinski: Sehr! Dieser Film ist seit vielen Jahren in meinem Leben. Seit vier Jahren akut, davor in Gedanken. Es war ein sehr intensiver Prozess, in dem ich durch die ganze Palette der Emotionen gegangen bin. Jetzt kommt das Baby endlich in die Welt. Ich freue mich besonders auf die Fragen und Gespräche.

WELT AM SONNTAG: Dein Umzug nach Los Angeles war also keine Flucht?

Karolinski: Weder bin ich aus Berlin geflüchtet noch aus Deutschland ausgewandert. Wenn sich eine andere Gelegenheit ergibt, würden wir auch woanders hinziehen. Die Welt ist zum Glück offener geworden. Leider nicht für alle. Es ist sehr privilegiert, das sagen zu dürfen: Heute sind wir hier, morgen dort. Ich hab einen kanadisch-deutschen Pass und mein Mann einen amerikanisch-französischen. Wenn man die Immigrationspolitik hier in Amerika verfolgt, scheint das absurd. Wo man Kinder von ihren Eltern trennt, während andere um ihr Leben flüchten.

WELT AM SONNTAG: „Lebenszeichen“ wird ein sehr kommunikativer Film.

Karolinski: Ich hoffe es. Leider gibt es in Deutschland eine Debattenkultur, mit der ich mich nicht besonders identifizieren kann. Ich beobachte das schon mein Leben lang, aber verstärkt aus der Distanz. Wenn man Teil einer kulturellen oder religiösen Minderheit in Deutschland ist, wenn man also direkt von der Thematik betroffen ist, dann wird man in den Antisemitismus- und Rassismusdebatten außen vor gelassen. Wobei, man muss noch nicht mal Minderheit sein; in der Sexismusdebatte ging es um Frauen, da ist es auch so. Beim Thema Antisemitismus wurde mir oft klargemacht, dass ich als Jüdin ja nicht objektiv sein kann. Das ist einer der Gründe, warum ich diesen Film gemacht habe. In Deutschland liebt man besonders die Metadebatte.

Man fragt: „Was hältst du denn eigentlich von der MeToo-Debatte?“ Man redet nicht über den Inhalt, sondern darüber, wie man die Existenz der Debatte findet. Es gibt eine doppelte Distanzierung von der Auseinandersetzung mit sich selbst. Und das hat mit der deutschen Geschichte, der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs zu tun. Man deflektiert. In den USA lerne ich oft Leute kennen, die zugeben, dass sie nicht viel über ein Thema wissen, sie fragen viel und wollen nachlesen. Wenn ich nach Berlin komme, habe ich den Eindruck, die Leute denken, es sei am besten, so schnell wie möglich eine Meinung zu haben. Das sehe ich auch bei meinen progressiven, liberalen Freunden. Aber wäre es nicht radikaler zu sagen: Ich bin unsicher, oder ich habe gar keine Meinung, oder ich habe sogar einen inneren Konflikt? Man kann ja auch zwei Dinge auf einmal fühlen! Wenn ich über Deutschland spreche, spreche ich übrigens auch über mich als Deutsche.

WELT AM SONNTAG: Dein erster Film „Oma und Bella“ hatte einen sehr subjektiven Ansatz. Du porträtierst deine Oma und ihre beste Freundin, es wird viel gekocht, und jüdische Geschichte erzählt sich nebenbei. In deinem neuen Film ziehst du weitere Kreise, trittst aber auch wieder an das dir Bekannte heran wie mit einem Vergrößerungsglas: Berlin, deine Familie, Freunde. Weißt du, wonach du suchst, wenn du mit einem Film beginnst?

Karolinski: Bei diesem Film wollte ich bewusst vorher kein Ziel festlegen. Ich habe mich dafür verwundbar gemacht. Nur mit kompletter Offenheit findet man auch die kleinen Überraschungen. Ich wollte jede Energie, jedes Zeichen spüren können, was auch zu einer Art Depression innerhalb des Filmemachens geführt hat. Manchmal konnte ich wochenlang die Kamera nicht anfassen.

WELT AM SONNTAG: Weil man ohne Skript in der Luft hängt?

Karolinski: Ich wollte nicht mit dem herkömmlichen Rezept aus Gedenkstätten und Literatur den Holocaust bearbeiten. Und in dem Moment, wenn man es wieder an sich ranlässt, wird man eben depressiv. Ich hatte mir die Frage, warum das eigentlich passiert ist, jahrelang nicht gestellt. Außerdem habe ich im Sommer gedreht. Meine Freunde sind draußen und trinken Aperol Spritz, und ich sitze zu Hause und beschäftige mich mit dem Holocaust. Das war mir irgendwie peinlich. Dabei ist es okay und wichtig, diese verdammte Traurigkeit zuzulassen.

WELT AM SONNTAG: Hat diese intensive Auseinandersetzung dein Grundvertrauen in die Welt erschüttert?

Karolinski: Ich hatte nie dieses Grundvertrauen.

WELT AM SONNTAG: Die Szenen im Film wirken intim. Hattest du ein Filmteam dabei?

Karolinski: Am Anfang hatte ich ein Team, es stellte sich jedoch heraus, dass das Budget nicht für einen ganzen Sommer reichen würde. Ich habe dann beschlossen, dass ich alleine weiterdrehe. Im Nachhinein war das die beste Entscheidung. Ich konnte jederzeit losziehen und meiner Intuition folgen. Die Stolpersteine auf dem Gehweg habe ich zum Beispiel an einem Sonntag um 5 Uhr morgens gedreht, als ich nicht schlafen konnte.

WELT AM SONNTAG: In einer berührenden Szene reinigt ein altes Ehepaar die Skulptur an der Friedrichstraße, die den Kindertransport darstellt. Wie hast du deine Protagonisten gefunden? War es schwierig, Leute zu überzeugen, sich zu ihrer persönlichen Geschichte und dem Holocaust zu äußern?

Karolinski: Nein, es war nicht schwierig. Mit Freunden und Bekannten hatte ich sowieso schon viel über den Film geredet. Herr und Frau Michalski aus dieser Szene kannte ich vorher gar nicht. Ich hatte eine Bekannte zum Frühstück getroffen; sie kam von der S-Bahn. Sie sagte: „Alexa, ich hab gerade was Merkwürdiges gesehen. Wusstest du, dass es Leute gibt, die das Kindertransportdenkmal putzen?“ Ich dachte erst, vielleicht die BSR, habe dann aber erfahren, dass es ganz normale Bürger sind, die die Mahnmale putzen.

WELT AM SONNTAG: In einer Szene des Films diskutierst du mit einer Freundin. Ihr redet über ein Bild, das du mal auf Instagram gepostet hast. Darauf sieht man den Schriftzug „Neue Welt“ am Berliner Hermannplatz, der dich an das „Arbeit macht frei“ über einem KZ erinnert. Sie sagt, sie habe sich durch das Posting „beleidigt“ gefühlt.

Karolinski: Wir hatten damals bei einer Hochzeit darüber geredet und dann noch mal vor der Kamera. Ich finde es interessant, dass sie sagt: Mir war nicht bewusst, wie groß dein Trauma ist. Niemand hat eben darüber zu entscheiden, wie groß das Trauma eines anderen Menschen ist. Carolins Familie kommt aus der DDR. Wenn sie durch Berlin läuft, sieht sie Dinge, die ich nie sehen würde. Das Tolle an unserer Freundschaft ist, dass wir darüber reden können, wie es sich für sie anfühlt, Kind der ersten Generation des vereinigten Deutschlands zu sein, und ich darüber, wie es ist, die Enkelin von Holocaust-Überlebenden zu sein. Man hört sich gegenseitig zu.

WELT AM SONNTAG: Man sieht auch wieder deine Oma im Film. Hat sie „Lebenszeichen“ schon gesehen?

Karolinski: Ja, aber sie ist mittlerweile 91 Jahre alt und hört schwer. Sie wollte vor allem wissen, wie andere den Film finden. Ihr geht es eher darum, dass wir akzeptiert werden. Sie ist generell ein eher unkritischer Mensch. Sie hat sich nur etwas Sorgen gemacht, dass mein Bruder im Film die deutsche Hymne singt. Ich werde ihr aber die Artikel, die zum Film erscheinen, alle vorlesen.

WELT AM SONNTAG: Der Film startet mit einer Szene, in der deine Mutter den Tisch für Rosch ha-Schana deckt. Welche Rolle spielt jüdische Tradition für dich? Führst du sie auch unabhängig von deiner Berliner Familie in Los Angeles fort?

Karolinski: Gerade weil meine Familie den Holocaust erlebt hat, ist es für mich sehr schwierig, Religion, Familie und Kultur zu trennen. Ich habe eine sehr starke jüdische Identität. Vielleicht stärker als jüdisch-amerikanische Freunde. Ich liebe die Feiertage, weil dann alle Freunde und die Familie zusammenkommen. Auch hier in L.A. In die Synagoge gehe ich nur einmal im Jahr mit meiner Oma in Berlin. Ich bin kein religiöser Mensch. Man kann auch nicht wirklich eine jüdische Atheistin sein (lacht), aber in die Richtung geht es. Ich suche meine Antworten nie in Religion.

WELT AM SONNTAG: Das heißt, du suchst deine Antworten in der Welt?

Karolinski: Ich suche sie in der Kunst, in Büchern und in meinen Mitmenschen. Natürlich auch in der Geschichte.

WELT AM SONNTAG: Deine Mutter erzählt im Film, wie sie deinen Vater in Florida kennengelernt hat. Er hat sich nicht getraut, ihr zu erzählen, dass er aus Deutschland kommt. Kannst du das Schamgefühl noch nachvollziehen? Geht dir das in den USA manchmal so, dass man es lieber nicht erzählt? Oder wird das überlagert von dem Bild des weltoffenen, kreativen Berlins?

Karolinski: Nein, das ist mir seit Jahren nicht mehr unangenehm. Dass Berlin mittlerweile die „coolste Stadt der Welt“ ist, hat geholfen. Ich erinnere mich an eine Situation aus der Kindheit. Wir waren in Israel im Urlaub, und der Taxifahrer hat mich als Nazi beschimpft, als ich ihm sagte, dass ich aus Deutschland komme. Man musste schon viel erklären, warum man in Deutschland lebt. Das höre ich eigentlich gar nicht mehr. Das liegt auch daran, wie sehr Berlin sich verändert hat. Ich höre von vielen Juden aus der Generation meiner Eltern, dass sie gerade zum ersten Mal in Deutschland waren. Ein Schamgefühl hatte ich aber nie wirklich. Ich hatte nur nie eine Antwort auf die Frage, warum meine Familie hier geblieben ist. Bis ich die historischen und emotionalen Gründe für mich selbst gefunden habe.

WELT AM SONNTAG: In einer eindrücklichen Szene bist du am Holocaustmahnmal und interviewst zwei französische Kinder, die zwischen den Betonstelen spielen. Es ist ein besonderer Moment, weil sich auf dem ganzen grauen Erbe eine Szene der Unschuld ereignet.

Karolinski: Bis zum Filmdreh war ich noch nie am Mahnmal. Ich dachte immer, vielleicht arroganterweise, dass das nichts für mich ist. Warum sollte ich dahin gehen, wenn ich zu Hause ein lebendiges Mahnmal habe? Zum Prozess des Films gehörte: Wie gehen andere Leute an die Geschichte heran? Ich war tagelang dort, weil ich nicht wusste, was ich suchte. Ich hätte stundenlange Filme machen können von Leuten, die auf den Steinen rumspringen und Selfies machen. Nachdem ich so lange da war, muss ich sagen: Das Mahnmal ist toll! Es ist dunkel und hell zugleich. Fühlt sich erdrückend und befreiend an. Und irgendwann habe ich mich auch einfach auf einen Stein gelegt und die Luft geatmet.

Für mich ist es das gelungenste öffentliche Kunstwerk, das ich je gesehen habe. Zu jeder Tageszeit fühlt es sich anders an. Kunst ist dazu da, dass wir über unser eigenes Leben nachdenken. Deswegen finde ich es wunderbar, dass Leute am Mahnmal machen, was sie wollen. Auch Selfies. Man ist frei dort. An einem Tag waren die Dokumentarfilmgötter besonders gut zu mir und haben mir die französische Familie geschickt. Das kleine Mädchen sagt genau, wie es ist. Für sie fühlt es sich frei an. Die Geister sind hier frei.

DIE WELT/WELT AM SONNTAG © Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten

und click vielleicht hier: https://anarchaeologie.de/
 


so wie sich die akteure und schauspieler des "jugendvolxtheaters bethel" neulich das nazi-'euthanasie'-leidensporträt meiner tante erna kronshage in ihr neuestes theaterstück "ich will leben - besonders|anders""angeeignet" und integriert haben und es in beziehung gesetzt haben zu ihren eigenen begabungen und stärken und gleichzeitig zu ihren (ich sag mal ganz despektierlich vielleicht "pubertären") macken und gewohnheiten und tics - so stelle ich mir auch den oben im interview genannten begriff der "anarchive" vor, den der medientheoretiker prof. siegfried zielinski da formuliert - und der einen so großen stilistischen eindruck ausgeübt hat auf den film: "lebenszeichen - jüdischsein in berlin" von alexa karolinski.

im artikel zum film heißt es nämlich: "alexas film ist anders als viele dokumentationen über die schoah – er spürt im hier und jetzt, im gespräch mit freunden und freundinnen, mit familie und zufallsbekanntschaften, assoziativ und offen dem horror der geschichte nach." - und das geschieht ja im theaterstück auch: ernas horror wird nachgespürt mit eigenen erarbeiteten szenen und assoziationen und mit der musik und mit dem gebrüll-sound adolf hitlers ("flink wie windhunde - hart wie kruppstahl") von damals unterlegt: aber auch in dynamisch tänzerischen und in sehr nachdenklichen sequenzen - authentisch mit heranwachsenden von heute - von jetzt ...

und es geschieht ja beides eigentlich ambivalentes nebeneinander her: auf der einen seite wird das gefühl der "ferne", der 70-80 jahre zurückliegenden ereignisse aufgerufen als er-innerung  - und gleichzeitig wird eindrücklich die erschreckende aktualität und die eigentliche zeitlosigkeit und alltäglichkeit dieses horrors in die gegenwart projiziert ...

und ob es angebracht ist oder besser nicht: ein wenig scheint für mich ja in dem ansatz von alexa karolinski auch der kürzlich verstorbene claude lanzmann mit seinem berühmten "shoah" wieder durch: seine langsamen stummen minutenlangen kamerafahrten über das gras auf den massengräbern und seine insistierenden interviews mit den zeitzeugen von damals - und seine überlange oft unterbrochene produktionszeit ...

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ich habe keine ahnung, ob ich das richtig verstanden habe: aber das alles sind für mich beispiele für das, was ich mit meinen empfindungen wohl unter den für mich erst einmal abstrakten begriffen von "anarchaeologie" und "anarchive" verstehen könnte ... - 

und wer also noch einmal selbst diesen gedankengängen folgen möchte: hier der link zum theaterstück und zu erläuterungen der szenenfolge, wie ich sie als zuschauer gedeutet habe.

ich habe übrigens einem gewissen wohl 13-köpfigen "inner-circle" von "einschlägigen" verwandten und bekannten diesen theaterstück-link schon vor wochen zukommen lassen - doch ich habe dazu nur eine einzige reaktion und rückmeldung erhalten ... - aber auch das muss wohl so als zeitgemäßes scham-verhalten oder ignorieren so hingenommen werden: augen zu - und durch ...



VOLKS-hochSCHULE und Homöopathie





"Zur Verbreitung von fragwürdigen und unwissenschaftlichen Heilmethoden wie Homöopathie, Bach-Blüten und Schüßler-Salzen tragen auch die deutschen Volkshochschulen erheblich bei."

Schröpfen, Reiki, Hormon-Yoga

Volkshochschulen lehren fragwürdige Alternativmedizin-Methoden

Volkshochschulen haben einen guten Ruf, doch der droht beschädigt zu werden: In vielen Kursen werden unwissenschaftliche Heilverfahren propagiert, zeigt eine Datenanalyse des SPIEGEL, bei der die zu einem bestimmten Stichtag online verfügbaren Gesundheitsprogramme von rund 350 der insgesamt etwa 900 Volkshochschulen (VHS) ausgewertet wurden. 

Im Angebot fanden sich Kurse zu Ayurveda gegen Bluthochdruck und Akupressur bei Hunden, zur Edelsteinheilkunde, Kinesiologie, Klangschalenmassage, Aromatherapie, Lach- und Hormonyoga, Meridian-Dehnen, Chakren-Tanz, Lomi Lomi, Schröpfen und Spagyrik. Die 33 fragwürdigen Verfahren, die sich am häufigsten im VHS-Angebot fanden, hat Edzard Ernst, emeritierter Professor für Komplementärmedizin der Universität von Exeter, für den SPIEGEL detailliert bewertet.

  • In jedem fünften Volkshochschulkurs im wichtigen Programm-Teilbereich Erkrankungen/ Heilmethoden, so ergab die SPIEGEL-Analyse, wird ein fragwürdiges alternativmedizinisches Verfahren gelehrt.
  • Mehr als jeder achte Kurs betrifft sogar eine Therapieform, die vollkommen unwirksam oder wissenschaftlich gar nicht erst untersucht ist.

Die VHS Erfurt war am Erhebungsdatum von allen untersuchten Volkshochschulen diejenige mit den meisten fragwürdigen alternativmedizinischen Angeboten, die VHS Leipzig bietet die wenigsten solcher Kurse an: Dort zählt nur jedes 23. Kursangebot dazu.

Heilmethoden, so ergab die SPIEGEL-Analyse, wird ein fragwürdiges alternativmedizinisches Verfahren gelehrt.

Mehr als jeder achte Kurs betrifft sogar eine Therapieform, die vollkommen unwirksam oder wissenschaftlich gar nicht erst untersucht ist.

Die VHS Erfurt war am Erhebungsdatum von allen untersuchten Volkshochschulen diejenige mit den meisten fragwürdigen alternativmedizinischen Angeboten, die VHS Leipzig bietet die wenigsten solcher Kurse an: Dort zählt nur jedes 23. Kursangebot dazu.

usw. - mehr lesen Sie hier

und das ganze SPIEGEL-Heft 34/2018 widmet sich in Titelgeschichte und der o.g. VHS-Studie mit dem Thema:
Hokuspokus - Geld weg!
Heiler, Gurus, Scharlatane - Der Boom der Alternativmedizin - 

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Ja - da schreibt der SPIEGEL alle naselang einen solchen warnenden und "aufrüttelnden Bericht"über die "Alternativmedizin" - und diesmal bringt er - wieder in der gerade noch "Saure-Gurken-Zeit" - sogar eine lange Titelgeschichte mit entsprechendem Heft-Cover und einer "VHS-Studie" zum Thema - wo man nun wahrscheinlich eine Brutstätte des homöopathischen und alternativen Unsinns ausgemacht hat.

Da muss also die "Allopathie"-Lobby gut gepuckert haben, denn schon 2017 wurden 3 größere Aufmacher zu diesem Thema gebracht - und immer mit der gleichen Stoßrichtung: Die "Alternativmedizin" sei ein einziger "Humbug" ...

Aber wenn ich mich dann mit den immer gleichen Argumenten (→ unwissenschaftlich, ungenügende unwissenschaftliche und falsch erhobene Versuchsreihen, Scharlatanerie usw.) auseinandergesetzt habe, geht es mir auch so wie es jetzt auf dem SPIEGEL-Titel steht: "Hokuspokus - Geld weg!"- denn diese immer wiederholten Argumente können meine Affinität zur "Alternativmedizin" nie tatsächlich erschüttern - nee, sie spornen mich immer wieder zu Leserbriefen und Forenbeiträgen und Stellungnahmen an, weil sich diese wissenschaftlichen Sauberfrauen und -männer nie die tatsächliche Mühe machen auf die individuelle Ganzheitlichkeit eines jeden Lebewesens (Mensch & Tier - und vielleicht sogar Pflanze) im Gesundheitsgeschäft näher einzugehen. 

Diese vorgegebenen Massen-Dosierungen der künstlich chemischen Allopathie-Medizin: "Man nehme ..." mit den Dosierungs-Festlegungen nach Marktüberlegungen statt dem, was der Mensch im Hier & Jetzt braucht, und den "Ausnahmen" und "Nebenwirkungen" auf den ellenlangen Beipackzetteln einer jeden Medizinpackung, ohne z.B. die Genderproblematiken bei den Verträglichkeiten zu berücksichtigen - geschweige denn Einzel-Typisierungen - das kann ja nicht der Weisheit letzter Schluss sein - da muss es ja noch etwas geben ...

Und der olle Bundespräsident Heinemann hat schon gesagt: "Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen."

Und die Ärztin Veronica Carstens, Ehefrau des Alt-Bundespräsidenten Karl Carstens, gründete 1982/83 mit ihrem Mann die "Karl und Veronica Carstens-Stiftung" (Carstens-Stiftung), eine Fördergemeinschaft für Erfahrungsheilkunde Natur und Medizin, die inzwischen 35 Mio. €uro in die Forschung zur Komplementärmedizin hat fließen lassen - 35 Mio. für einen solchen "Humbug" ...??? 

Das Ehepaar Carstens nannte die Homöopathie eine "Komplemetärmedizin", eine ergänzende Medizin, die natürlich keine ernsthaften Entzündungen akut oder gar spontan zu heilen vermag, aber vorbeugend, lindernd und in der Rekonvaleszenz zur rascheren ganzheitlichen Wiedererstarkung mit eingesetzt werden kann.

Und dieser komplementär ergänzende Ansatz wird bei der sicherlich gesponserten Berichterstattung gegen die Homöopathie schlichtweg vernachlässigt. 


VOLKS-hochSCHULE und Homöopathie

Ich finde - eine Volkshochschule ist keine wissenschaftliche Fakultät - und darf - ja muss - folglich "Volks-Wissen" abbilden, bearbeiten und verbreiten dürfen - das darf man ja auch kritisch tun - und muss es nicht wie ja auch in der allopathischen Medizin-Werbung "an-preisen": "neue Forschungen haben ergeben" ...

Niemand ist verpflichtet, an einschlägigen VHS-Kursen teilzunehmen: Es geht nur hin, wer an dem ausgeschriebenen Programm tatsächlich interessiert und damit motiviert ist - erst ab ca. 6-10 Kurseinschreibungen findet zumeist erst ein Kurs tatsächlich statt - eine prima Lehr- und Lernvoraussetzung. 

Und vielleicht kann mancher ("seriöse") wissenschaftlich fundierte Pharma-Vertreter ja "Gegenveranstaltungen" in den Volkshochschulen geben ... - wenn genauso viel Interessenten kommen. 

Und immer pünktlich gerade noch so im Sommerloch hat die "Schul"-Pharma-Lobby ihre große Stunde in den Medien, um immer mal wieder "wissenschaftlich" auf die Alternativmedizin einzuknüppeln: Jahr für Jahr - gefühlt bestimmt schon, seit der olle Hahnemann die Augen geschlossen hat ... 

Ich hoffe, dass der "gesunde Volksverstand" das entsprechend zu sanktionieren weiß - und weiterhin mit den Füßen abstimmt - über Wohl und Wehe dieser "Methoden" ... 

Ich kenne einen Hund, bei dem Homöopathie-Kügelchen prima anschlagen - wohl ohne entsprechende "Vorstellungs-Affirmationen" - und wenn ich nicht schlafen kann helfen mir zu 100 % (!) meine jeweils 8 eigentlich ja "wirkstofffreien""Neurexan"-Tropfen von der Fa. Heel ... - ob das nun reine Selbstsuggestion ist, ist mir dabei völlig egal ... 


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Oma & Opa schlafen ihren Opioid-Rausch - und hinten sitzt der Enkel im Auto

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Mit diesen Überbleibseln auf 
einem Spielplatz wurden keine 
homöopathischen Mittelchen 
verabreicht.
Jedenfalls - die Opioid-Toten in den USA sind in diesem Jahr auf weit
über 71.000 Menschen angestiegen - mit einem ungebrochenen jährlichen Zuwachs von 5-10 % - ähnliche Homöopathie-Opferzahlen bei Tier und Mensch sind mir auch in den schreierischen SPIEGEL-Veröffentlichungen dagegen nicht geläufig ...

Über diese Opioid-Seuche und über die süchtigmachenden Allopathie-Mittel und ihre Überdosierungen allerorten habe ich noch kaum Extra-Reportagen gefunden - die lassen sich wohl nicht so gut verkaufen ...


moral ist - wer zuletzt lacht ...

SS-Helfer kommt in NRW unter
USA weisen staatenlosen 95-jährigen aus – Deutschland nimmt ihn auf

Von Christian Althoff

Die USA haben einen 95 Jahre alten SS-Helfer ausgebürgert. Deutschland erklärte sich bereit, den kranken, staatenlosen Mann aufzunehmen. Seit gestern lebt er in einem Pflegeheim in Ahlen (Kreis Warendorf).


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Blick in das Gefangenenlager Trawniki - Quelle: US-Justiz
Jakiw Palij stammt aus Ostpolen. Im Dritten Reich soll er Aufseher im Zwangsarbeiter- und Ausbildungslager Trawniki gewesen sein und die Aufgabe gehabt haben, Menschen an der Flucht zu hindern. In dem Lager mussten Zwangsarbeiter arbeiten, zudem bildete die SS dort »fremdvölkische Einheiten« aus, die in Polen und der Ukraine Juden umbringen sollten. Am 3. November 1943 wurden in dem Lager etwa 6000 Juden erschossen.


Bei Kriegsende war Jakiw Palij 21 Jahre alt. 1949 wanderte er in die USA aus. Er bekam 1957
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Jakiw Palij - undatiertes Foto - Quelle: US-Justiz
die amerikanische Staatsbürgerschaft und arbeitete als Zeichner. Allerdings hatte er angegeben, im Dritten Reich auf einem Bauernhof in Polen gearbeitet zu haben. Als die Lüge herauskam, entzog ihm ein US-Gericht 2003 die Staatsbürgerschaft. Die USA wollten Palij ausweisen, fanden aber lange kein Land, das den inzwischen Staatenlosen aufnehmen wollte. Jüdische Organisationen demonstrierten mehrfach vor seinem Haus in New York. 2003 sagte Palij der »New York Times«, die SS habe ihn abgeholt, als er 18 gewesen sei, und zur Arbeit als Wache gezwungen. Er habe nie eine Uniform getragen.


Während die USA Palij für ein Rad in der Vernichtungsmaschine der Nazis halten, fanden deutsche Staatsanwälte keinen Hinweis auf eine Beihilfe zum Mord. Sie stellten ihre Ermittlungen 2016 ein.

In den USA blieb der Fall Palij weiterhin sehr prominent. Es gab Verhandlungen auf höchster Ebene über eine Aufnahme des Mannes in Deutschland, auch Opferverbände und einzelne US-Abgeordnete intervenierten. Schließlich stimmte die Bundesregierung zu. »Damit setzt sie ein klares Zeichen der moralischen Verantwortung Deutschlands«, teilte das Innenministerium gestern mit.

Am 7. August wurde das Ausländeramt des Kreises Warendorf vom nordrhein-westfälischen Integrationsministerium überraschend angewiesen, Palij eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Das ist laut Aufenthaltsgesetz »zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland« möglich. Warendorfs Landrat Dr. Olaf Gericke ließ sich vom Land versichern, dass es für die Unterbringung und den Lebensunterhalt des 95-Jährigen aufkommen wird. Dann organisierte die Kreisverwaltung einen Platz in einem Pflegeheim. 

Eine persönliche Beziehung Jakiw Palijs zum Münsterland gibt es nicht. Aus dem Bundesinnenministerium hieß es nebulös, man habe eine Unterbringung gesucht, »die den Umständen Rechnung trägt«.


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Jakiw Palij auf seiner Fahrt zum Airport - Foto: ABC News
Gestern Morgen landete eine Militärmaschine mit dem 95-Jährigen in Düsseldorf. Dann wurde Palij mit einem Krankenwagen in die Altenpflegeeinrichtung gebracht. TV-Bilder von gestern zeigten einen weißhaarigen Mann mit einem weißen Vollbart.

Das Weiße Haus teilte mit: »Die USA werden niemanden tolerieren, der NS-Verbrechen und andere Menschenrechtsverstöße un­terstützt hat, und diese Personen werden auf amerikanischem Boden keine Zuflucht finden.«

Neue Ermittlungen gegen den 95-Jährigen wird es nach Einschätzung der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg nicht geben, solange es keine neuen Beweise gibt.

WESTFALEN-BLATT Nr.194 - Mittwoch, 22.August 2018 - Seite: OSTWESTFALEN-LIPPE/NRW

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»Die USA werden niemanden tolerieren, der NS-Verbrechen und andere Menschenrechtsverstöße un­terstützt hat, und diese Personen werden auf amerikanischem Boden keine Zuflucht finden.« 
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naja - diese erkenntnis hat ja fast das ganze leben des mr. palij gedauert: fast 65 jahre lebte er unbescholten in den usa - z.t. als regelrechter amerikanischer staatsbürger - und erst vor 15 jahren kam seine falsche angabe, wozu er im krieg abkommandiert wurde, ans tageslicht - und die us-bürgerschaft wurde ihm daraufhin wieder entzogen. 

da war palij aber auch schon 80 - und nun weist ihn die usa mit hehren martialischen worten aus: hier wird meines erachtens das "unrecht" eines ende des krieges 21-jährigen jungen mannes mit unmenschlichkeit "gesühnt": denn der volksmund weiß ja zu sagen: einen alten baum verpflanzt man nicht mehr - zumal mr. palij ja noch nie in deutschland gelebt hat und hierher keinerlei persönliche beziehungen hat - ich weiß gar nicht, ob er überhaupt deutsch sprechen kann ...

die staatsanwaltschaften in deutschland, in den usa - und auch der israelische mossad konnten in all den jahren nichts finden, womit an ihn unter anklage stellen konnte. und als er noch jung und erinnerungsfähig war, hat man ihn wahrscheinlich gar nicht traktiert ...

und wenn heute die "new york times" dazu die überschrift wählt: "dieser mann hat verdient, was er jetzt bekommt": so suggeriert das jetzt eine "bestrafung", einen arrest - oder sonst etwas, was in wirklichkeit nur eine "entsorgung" und abschiebung für die usa-behörden ist - und eine überproportionale belastung für deutsche behörden, was völkerrechtlich bei lage der dinge sicherlich umstritten scheint. 

wenigstens - in diesem "falle" wäre eine "verjährung" wirklich angebrachter gewesen, zumal mr. palij ja bis heute keinerlei beihilfe zu verbrechen - oder tatsächliche morde nachgewiesen werden können. auch in deutschland ist das verfahren gegen ihn schon 2006 ergebnislos eingestellt worden.

eine nachbarin berichtete jetzt laut "new york times", an warmen tagen habe sie ihn oft auf der kleinen hintertreppe sitzen sehen - "im stillen weinen"...

auch günter grass gestand viele jahre nach kriegsende ein, dass er auch der ss "gedient" hat - und blieb zu recht unbehelligt - wenn auch mit einer gehörigen moralischen schramme auf seiner ansonsten in dieser hinsicht wohl "weißen weste", zumal er sich ja auch politisch voll engagierte.

und wenn die beteiligten deutschen ministerien nun großmundig verkünden, damit ein »ein klares zeichen der moralischen verantwortung deutschlands« zu setzen - und sich in einer nacht-&-nebel-aktion an der "entsorgung" aus den usa eines 95-jährigen polnisch-stämmigen amerikaners beteiligt, der in einem teil polens geboren wurde, der heute zur ukraine gehört - und das »zur wahrung politischer interessen der bundesrepublik deutschland« - so ist es für mich fraglich, ob das eine humane und moralische geste ist - oder ob im hintergrund damit eher ein ganz anderer deal vielleicht beglichen werden muss ... 

die amerikanischen behörden jedenfalls wollten mr. palij schon seit 2004 loswerden - und verhandelten deshalb mit deutschland, polen und der ukraine. und der neue botschafter der trump-administration, richard grenell, hat nun den fall palij endlich nach 14 jahren "erfolgreich" zu ende gebracht - mit welchen penetranten mitteln auch immer... - aber grenell ist ja kein unbeschriebenes blatt mehr als botschafter - und ist schon durch einige undiplomatische ruppigkeiten aufgefallen...

die zwangs-umsiedlung eines 95-jährigen menschen als politikum hochzustilisieren oder gar als "ruhmesblatt" oder "erfolg" ist eigentlich für mich nur ein trauerspiel zu dem prozedere, wer hier in deutschland zur zeit ein "vorläufiges bleiberecht" erhält, "abgeschoben" wird, oder wo es um "familiennachzug" geht und um "green cards" etc. -

und besonders auch gegenüber den vielen eingesparten opferentschädigungen auf der "anderen seite", nämlich gegenüber den tatsächlichen holocaust- und 'euthanasie'-opfern und -zwangsarbeitern in all den jahren, die einklagteb aber zumeist abgewiesen wurden - wo man deren tod offensichtlich regelrecht herbeigesehnt hat - und der sture "moralische daumen", der weiterhin oft mit fadenscheinigen "datenschutz"-argumenten auf den archiv-aufklärungs-akten vieler dieser opfer mit ausdauer und rafinesse immer noch gehalten wird, was auch in halbstaatlichen behörden und verbänden oder auf länderebene sowie in institutionen immer noch versteckt auszumachen ist. 

so ganz nach dem motto: "jetzt muss es dann aber auch mal gut sein: ... wir haben doch jetzt soooo viele gedenkstätten geschaffen - und auch mit solchen aktionen wir um mr. palij wahrlich genug staatliche "moral" bewiesen - un gutt is" ... 

mit der "entsorgung" eines 95-jährigen ehemaligen kleinen ss-wachsoldaten lässt sich ja nun dazu nach außen publikumswirksam noch ein moralischer schlusspunkt "erhobenen hauptes" mehr setzen ...

die lerche schwang sich in die luft ...

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Nach dem Sommer ziehen die Feldlerchen Richtung Südeuropa – zumindest die wenigen, die es noch gibt -
Foto: Frank Hecker/ddp | DIE ZEIT


🔴Heimatverlust: In Deutschland gibt es kaum noch Feldlerchen. Wer den Vogel retten will – und wie die Politik das verhindert

Von Merlind Theile


Der Tag bringt seine Sorgen,
mich lässt es unbeschwert,
das macht, ich hab am Morgen
die Lerchen singen gehört.

Peter Berthold kann die Amsel nachahmen, die Drossel, den Fink und den Star, fast hundert Vögel kann er imitieren, aber die Feldlerche, die kann er nicht. »Das ist ein ganz besonderer Gesang«, sagt der Ornithologe. Erst ein lang gezogenes »trieh«, im Aufsteigen dann eine ununterbrochene Folge von Motiven und Strukturen, mit rhythmisch wiederholten Trillern, Stakkatos, Rollern, Glissandos. »Eine wunderbare Melodie ist das«, sagt Berthold. »Wenn man die Feldlerche singen hört, ist man kaum in der Lage, schwermütig zu sein.«

Und wenn man sie nicht mehr singen hört?

Jahrhundertelang begleitete das Tirilieren der Lerchen den Frühling und den Sommer, es inspirierte Dichter, Maler und Komponisten. Die Lerche sei Teil der Volksseele, sagt Peter Berthold, ein Kulturgut. Aber eines, das in Deutschland nicht gepflegt wird: Die Feldlerche verschwindet.

In nur vier Jahrzehnten hat ihre Zahl hierzulande um 90 Prozent abgenommen, nicht einmal eine Million Brutpaare, schätzt Berthold, seien noch übrig. Die Suche nach den Gründen für dieses Verschwinden führt von den Feldern des Bodenseehinterlands bis nach Brüssel, ins Entscheidungszentrum der EU. Die Feldlerche, Muse der Künstler, ist auch ein politisches Tier.

Die Suche beginnt mit Peter Berthold, 79, dem bekanntesten Vogelkundler des Landes. Von 1991 bis 2005 leitete er die Vogelwarte Radolfzell am Bodensee, sein jüngstes Buch Unsere Vögel ist ein Bestseller. An einem heißen Augustnachmittag steht Berthold, weißer Bart, runder Bauch, am Rand eines abgemähten Feldes in der Nähe von Stockach. »Um 1960 brüteten hier pro Hektar mindestens zehn Feldlerchenpaare«, sagt er. »Da hat die ganze Landschaft jubiliert!« Jetzt: Stille.

Früher, da gab es auf den sanften Hügeln rund um den Bodensee keine riesigen Äcker, sondern kleine Parzellen, dort stand zum Beispiel der Roggen, er wuchs schütter und nicht zu hoch. Andere Parzellen ruhten ein Jahr und trugen Wildkräuter, auf dass der Boden sich erhole. Alles ideal für die Feldlerche. Sie ist ein Bodenlaufvogel, sie mag ebene Flächen und lockeren Bewuchs, aber solche Felder gibt es kaum mehr, weder hier noch im Rest des Landes. Jetzt steht das Getreide vor der Ernte dicht an dicht, hochgezogen mit Kunstdünger und Unkrautvernichtungsmitteln, die Folgen: weniger Wildblumen, weniger Insekten, weniger Futter für die Vögel. Weniger Feldlerchen.

Und Peter Berthold, ihr Schutzpatron, steht neben dem Acker und kann nichts tun. Der Gegner ist zu mächtig. Es ist die moderne Landwirtschaft.

Aus dem Reich der niedren Dinge
Der gemeinen Nützlichkeit
Hebt die Lerche ihre Schwinge
In den Aether blau und weit.

Vier große Wendepunkte machten die deutsche Landwirtschaft zum Hauptfeind der Feldlerche. Der erste war der Einsatz von Herbiziden gegen Wildkräuter ab Anfang der Fünfzigerjahre. Der zweite war die Flurbereinigung. Ab den Sechzigerjahren wurden überall kleinteilige Flächen zusammengelegt, um sie besser bewirtschaften zu können. Bäume, Büsche und Hecken wurden weggeräumt, riesige Äcker entstanden. Der dritte Wendepunkt kam in den Achtzigerjahren, als die meisten Bauern auf Güllewirtschaft umstellten, um die Erträge zu steigern. Seither sind die meisten Felder überdüngt.

Den vierten Wendepunkt brachte der Mais. Für die Feldlerche ist ein Maisfeld ein Wald, nie würde sie sich dort hineinwagen. Seit den Neunzigerjahren hat der Maisanbau in Deutschland immer weiter zugenommen und mit ihm der Einsatz von sogenannten Pflanzenschutzmitteln, von Glyphosat und Neonicotinoiden, die im Verdacht stehen, für das massive Insektensterben unserer Zeit mitverantwortlich zu sein.

Das ist der Rahmen der konventionellen Landwirtschaft, wie sie heute betrieben wird, auf rund der Hälfte der gesamten Fläche dieses Landes. In manchen Regionen geschieht das besonders intensiv, zum Beispiel in Niedersachsen.

Eine halbe Autostunde südwestlich von Hannover liegt die Calenberg-Bredenbeck GbR. Sie umfasst knapp 1000 Hektar und gilt damit als Großbetrieb, wie es sie immer häufiger gibt in Deutschland. Der überwiegende Teil der Ländereien gehört Ernst August von Hannover und den Freiherrn Knigge. Verwaltet werden sie seit 2015 von Christian Schulze, einem 39-jährigen Landwirt.

Auf den Ackerflächen baut Schulze vor allem Weizen an, außerdem Zuckerrüben, Kartoffeln, Gerste, Raps und Mais. Solange er das noch darf, setzt er auf den Feldern neben anderen Mitteln auch Glyphosat und Neonicotinoide ein, weil er darin ein nützliches »Handwerkszeug« sieht, so wie die meisten anderen Bauern auch. Seine Handwerkszeuge nehmen Schulze viel Arbeit ab. Niemand muss umständlich Unkraut jäten oder Schädlinge von Hand einsammeln. Weil es all das nach dem Einsatz der Giftmittel ja gar nicht mehr gibt. Für die Bewirtschaftung seiner 1000 Hektar beschäftigt Schulze bloß zwei weitere Landwirte und einen Azubi. Den Hauptteil der Arbeit erledigen Maschinen.

Auf einem Stoppelfeld zieht an diesem Montag im August ein Traktor mit einem riesigen Grubber seine Bahnen und bearbeitet den Boden. »Unsere Schlepper fahren GPS-gesteuert«, erzählt Schulze am Rand des Feldes. »Wir arbeiten mittlerweile auf 2,5 Zentimeter genau.« Was für den Landwirt effizient ist, weil es Fläche und Saatgut optimal ausnutzt, ist für einen Bodenbrüter wie die Feldlerche verheerend: So dicht steht das Getreide, dass jede Flucht verengt, jede Sicht versperrt ist. »Es ist ein Präzisionsproblem«, sagt Schulze.

Man könnte auch sagen: Es ist ein Fortschrittsproblem. Wenn es immer profitablere Maschinen, Düngemittel, Pflanzengifte gibt, die den Bauern helfen, immer mehr aus ihrem Grund herauszuholen, dann werden die meisten Bauern diese Dinge nutzen. Weil sie ihren Gewinn steigern oder auch nur ihren Hof vor der Pleite retten wollen. Und weil sie eben das liefern, was die Verbraucher wünschen: makellose, günstige Lebensmittel, im Überfluss verfügbar. Auch Christian Schulze redet viel von Angebot und Nachfrage. Er sagt: »Schlussendlich leben wir alle vom Umsatz.«

Dass diese Art der Landwirtschaft vielen Lebewesen schadet, spielte in der Agrarwissenschaft über Jahrzehnte keine Rolle. Christian Schulze schloss sein Studium 2003 ab. Artenschutz, sagt er, sei in seiner Ausbildung nicht vorgekommen. Inzwischen lässt sich kaum noch leugnen, dass das konventionelle Bewirtschaften auf Dauer die Biodiversität zerstört. Im vergangenen Jahr schockierten die Daten eines Krefelder Forschervereins die deutsche Öffentlichkeit: Rückgang der Biomasse bei Fluginsekten um über 75 Prozent seit 1989. »Für uns Landwirte ist das Insektensterben eine Tragödie«, sagt Schulze. »Wir brauchen die Insekten zum Bestäuben. Und die Feldlerchen brauchen sie als Nahrung.«

Schon vor drei Jahren beschloss Schulze, etwas für die Vögel zu tun. Beraten vom Nabu, gestaltete er gut 14 Hektar seiner Felder lerchengerecht, mit Blühmischungen oder als Brachflächen. Der großräumige Versuch zeigte Wirkung: plus 23 Prozent Bruterfolg bereits im ersten Jahr. Die Weibchen hoben im Acker handtellergroße Mulden aus und legten ihre graubraun gefleckten Eier hinein, zwei bis fünf pro Brut. Auf dem Feld beobachtete Schulze die knapp zwanzig Zentimeter großen Lerchenmännchen, wie sie trillernd aufstiegen, um Weibchen zu imponieren oder Fressfeinde abzulenken. In Erregung stellt die Feldlerche ihre Scheitelfedern zu einer angedeuteten Haube auf.

Schulze freut sich über den Erfolg des Projekts, aber es ist nicht nur die Liebe zum Artenschutz, die ihn dazu gebracht hat. Die Calenberg-Bredenbeck GbR wird für ihre Lerchenfelder voll entschädigt, jedes Jahr mit einem fünfstelligen Betrag, der ungefähr dem Ernteausfall entspricht. Die Mittel kommen aus dem Haushalt der Region Hannover. Der Schutz der Feldlerche ist politisch gewollt.

Aber nicht auf höchster Ebene.
Nur die Lerche, unverdrossen,
Hängt am blauen Himmelszelt
Und vergißt, vom Licht umflossen,
Unter sich die ird’sche Welt.

Wolfgang Fiedler arbeitet in der Naturschutzbehörde der Region Hannover und verantwortet die Mittel für die Lerchenfelder. Er kennt die Vorbehalte gegen solche Projekte. Zum Beispiel diesen: Wieso ist es überhaupt schlimm, dass es kaum noch Feldlerchen gibt? »Weil jede Art, die ausstirbt, das Ökosystem schwächt«, sagt Fiedler dann. Zumal mit dem Lebensraum der Feldlerche ja noch anderes Leben verschwindet: Kornblumen, Wildbienen, Feldhamster. Je mehr Arten es gibt, desto widerstandsfähiger ist die Natur als Ganzes. Es ist wie beim Geldanlegen: Die sicherste Strategie ist eine möglichst breite Streuung.

Fiedler kennt auch das Argument, dass der Verbraucher selbst schuld ist am Schwund der Feldlerchen. Zum Beispiel weil er Fleisch isst. Drei Viertel des in Deutschland produzierten Getreides gehen in die Tiermast. Man könnte also schlussfolgern: weniger Fleischverzehr, mehr Feldlerchen. Das stimmt aber nur zum Teil. Eine wachsende Menge der konventionellen Nutzpflanzen werden gar nicht an Rinder oder Schweine verfüttert. Der gesamte Mais etwa, den der niedersächsische Landwirt Christian Schulze anbaut, geht in Biogasanlagen. Die erhalten dank des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) Fördermittel, weshalb der Maisanbau indirekt subventioniert wird. Insgesamt werden mittlerweile gut 40 Prozent des deutschen Maises in Biogasanlagen verbraucht. So gesehen ist auch eine Sparte der Energiewende mitverantwortlich dafür, dass die Feldlerchen verschwinden.

Wie soll der einzelne Verbraucher diesen Zielkonflikt lösen?

»Da muss die Politik steuernd eingreifen. Dafür gibt es sie!«, sagt Wolfgang Fiedler. »Die meisten Bauern kämpfen um ihr Überleben. Denen ist es egal, ob sie Weizen herstellen oder Feldlerchen. Wenn die Politik denen sagt: Wir geben euch Geld, damit ihr Feldlerchen produziert, dann machen die das sofort.«

In der Region Hannover würden Vorzeigeprojekte wie die Lerchenfelder schon gut angenommen, erzählt Fiedler, aber er höre oft die Frage: Wäre es nicht sinnvoller, diese Artenschutzprobleme auf höchster Ebene zu lösen? Ja, sagt er dann: »Die große Stellschraube ist die EU-Agrarpolitik.«

408 Milliarden Euro. So viel gibt die EU von 2014 bis 2020 für ihre Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) aus. Es ist der zweitgrößte Posten im Haushalt. Mit 408 Milliarden Euro könnte man ziemlich viele Lerchenfelder bezahlen. Die EU hat jedoch andere Prioritäten. Nur etwa vier Prozent der Mittel sind für den Naturschutz vorgesehen. Drei Viertel der GAP-Gelder gehen als Direktzahlungen an die Bauern, im Schnitt jährlich 280 Euro pro Hektar, und das weitgehend unabhängig davon, ob ein Bauer auf seinen Feldern Gift verspritzt oder Arten schützt. Das wichtigste Kriterium ist die reine Fläche, weshalb Großbetriebe – die überwiegend auch ohne Geld aus Brüssel Gewinn machen würden – deutlich mehr profitieren als Kleinbauern. Zwar wurde 2013 das sogenannte Greening beschlossen, das einen Teil der Subventionen an ökologische Auflagen knüpfte. Der EU-Rechnungshof stellte jedoch fest, dass das nichts gebracht hat. Es gab zu viele Schlupflöcher.

In diesem Frühjahr legte die EU-Kommission ihre Vorschläge zur Reform der GAP vor. Es geht um die Frage, wie die EU das Geld ab 2021 verteilt. Insgesamt wird es weniger sein, weil der Brexit ein Loch in den Haushalt reißt. Für die GAP sind »nur« noch 365 Milliarden Euro vorgesehen, aber auch damit ließe sich viel für den Artenschutz tun, ohne den Bauern zu schaden. Doch die EU-Kommission will das System der Direktzahlungen beibehalten. Stärker kürzen will sie jene Mittel, die auch dem Naturschutz dienen. Umweltschutzmaßnahmen sollen künftig bloß noch von den einzelnen Regierungen der Mitgliedsländer vorgegeben werden. Wenn die das nicht tun, hat die Feldlerche Pech gehabt. Der Nabu befürchtet ein »Drama für die Artenvielfalt«.

Auch der wissenschaftliche Beirat für Biodiversität und genetische Ressourcen, der das Bundeslandwirtschaftsministerium berät, stellte Anfang Juni fest: »Die EU-Agrarpolitik wird den heutigen Herausforderungen im Tierwohl, Umwelt-, Klima- und Biodiversitätsschutz nicht gerecht.« Der Beirat fordert, »dass die derzeit bestehende Fokussierung auf pauschale Flächensubventionierung überwunden wird«. Doch danach sieht es ja nicht aus.

Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) wird in den kommenden Monaten für Deutschland über die Reform der GAP verhandeln. An den umstrittenen Direktzahlungen will sie festhalten. Sie bemängelt, dass die Umweltvorgaben für Landwirte viel zu bürokratisch seien.

Es schmettert ihre Lieder
Die Lerche aus den Höh’n
Zur blühenden Erde nieder.
O Welt, wie bist du schön!

Früher hatte Peter Berthold, der Ornithologe vom Bodensee, beim Vogelschutz auf die Politik gehofft. 1988 stellte er Bundeskanzler Helmut Kohl seine Pläne für einen deutschlandweiten Biotopverbund vor. Bestimmte landwirtschaftliche Flächen hätten dafür in Schutzgebiete umgewandelt werden sollen. Kohl sei angetan gewesen, sagt Berthold. Dann aber habe Agrarminister Ignaz Kiechle interveniert: »Das ist nur der kleine Finger! Die wollen immer mehr! Das ist das Ende der Landwirtschaft!« So erzählt es Berthold. Aus dem Biotopverbund wurde erst mal nichts.


🔳90 % 
Seit 1960 ist die Zahl
der Feldlerchen in Deutschland
um 90 Prozent zurückgegangen

Die Hoffnung auf die Politik hat Berthold inzwischen aufgegeben. »In der Landwirtschaft lässt sich das Rad nicht mehr zurückdrehen. Die gesellschaftlichen Strukturen lassen das nicht zu«, glaubt er. »Ändern würde sich nur etwas durch eine Art Mais-Aids oder die Afrikanische Schweinepest oder eine Geflügelseuche oder am besten alles drei.« Darauf wartet Peter Berthold. Auf den großen Knall.

Bis der kommt, engagiert er sich selbst. Zu tun gibt es ja genug, über die Hälfte der rund 250 heimischen Brutvogelarten gilt inzwischen als gefährdet. Seinen Biotopverbund hat Berthold schließlich 2003 mithilfe der Heinz-Sielmann-Stiftung gegründet. Rund um den Bodensee gibt es schon 36 Standorte. Oft fährt Berthold umher und sieht nach seinen Weihern. Und bevor sie im Herbst gen Südeuropa ziehen, sucht er manchmal auch noch Feldlerchen.

Eine gute Stunde muss er an jenem heißen Augustnachmittag dafür fahren, hinauf zur Schwäbischen Alb. Dort hat Berthold in diesem Jahr schon Feldlerchen gesehen. Wegen der Hitze stand auf den Äckern das Getreide halb verdorrt und schütter, ein Habitat wie in der Steppe, Lerchenland.

Berthold parkt sein Auto zwischen den Feldern. Steigt aus, Hand ans Ohr, lauscht. In der Ferne ein zartes »tsip, tsip«. Eine Goldammer. Berthold läuft suchend in ein Stoppelfeld hinein. Zwanzig Meter, dreißig Meter. Plötzlich steigt vor ihm ein kleiner Vogel auf, ein zweiter, ein dritter. »Trrr-lit« machen die Feldlerchen, es ist ihr Warnruf. Sie flattern umher wie Schmetterlinge. Verschwinden wieder im Stoppelfeld. Und Peter Berthold strahlt.

Die zitierten Verse stammen aus Gedichten von Johannes Trojan, Heinrich Seidel, Martin Greif und von Stine Andresen.

www.zeit.de | die zeit nr.35/2018 - S. 6 - 




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Die Lerche schwingt sich in die Luft,das Täublein fliegt aus seiner Kluftund macht sich in die Wälder;die hochbegabte Nachtigallergötzt und füllt mit ihrem SchallBerg, Hügel, Tal und Felder,Berg, Hügel, Tal und Felder.

da füge ich doch gleich die alte strophe von paul gerhardt aus 1653 (!) hinzu - aus seinem lied: "geh aus, mein herz, und suche freud" - was ja manche heutigen scherzbolde mit dem ollen psycho siegmund "freud" verknüpfen wollen ...: "die lerche schwingt sich in die luft" - und nun - über 400 jahre später - ist ihr diese luft sehr dünn geworden oder schon gar ganz ausgegangen - bzw. sie wird ihr verpestet und genommen ...

und der artikel führt ja exakt die 4 wendepunkte zum feldlerchen-mord auf:
  • der einsatz von herbiziden gegen wildkräuter etc. - und dann zum pflanzen"schutz" (glyphosat u.a. lassent grüßen)
  • die flur"bereinigung" (großflächiges bewirtschaften wie in den kolchosen der ddr und der udssr - und was hat man früher dagegen gewettert)
  • die güllewirtschaft mit überdüngung der felder (erstragssteigerung um jeden preis)
  • die monokultur "mais" ...
das sind alles keine neuigkeiten - und dieser schleichende tod der feldlerche und mit ihr ja von vielen milliarden kleinstinsekten und daraufhin vielen anderen vogelarten (der kibitz z.b.) läuft ja schon seit über 50 jahren fast stickum nebenher, um immer größere gewinnmargen zu kreieren - bzw. die erzeugerpreise auf einem niedrigen niveau zu halten, denn dann kann die übrige wirtschaft auch wenig lohn der masse arbeitnehmer insgesamt zahlen: okay - das tägliche mahl ist allen mehr als sicher - und das ist dann ja auch schon ein großer wahlschlager - wie die renten, die ja auch seit jahrzehnten scheinbar "sicher" sind ...

aber womit erkaufen wir uns diese "sicherheit" - mit der allmählichen verstummung der singvögel und ihrer unweigerlichen allmählichen ausrottung - wenn wir so weitermachen wie bisher ...

o bitte gott - lass' nicht nur endlich wieder regen vom himmel regnen - sondern endlich auch wieder "hirn" ...





bullshit





Manager, die nichts managen und Assistenten, die nichts assistieren: Ausgerechnet der kostenbewusste Kapitalismus schafft Jobs, die jede Idee von Produktivität verhöhnen. Hat das Methode?

Von Peter Praschl

Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob es für oder gegen unser Gesellschaftssystem, die Evolution, Gott und die kosmische Ordnung spricht, wenn ein Buch zum Bestseller wird, in dem uns ein anarchistischer Anthropologieprofessor auf knapp 400 Seiten unter die Nase reibt, dass in Nationen mit unserer Wirtschaftsordnung mindestens ein Drittel aller Angestellten völlig nutzlose und überflüssige „Bullshit-Jobs“ haben.

Vielleicht ist es ja ein Symptom dafür, dass wir nicht nur ergeben hirnrissige Arbeit machen, sondern auch einen masochistischen Hau haben, der uns dazu treibt, uns über unsere armselige Existenz in Kenntnis setzen zu wollen (statt sie zu verdrängen). Vielleicht sagt es aber auch, dass wir Menschen mit Bullshit-Jobs toll sind. Wir schaffen es, uns ein Arbeitsleben lang mit Absurdität zu arrangieren, obwohl wir sie kennen. Wahrscheinlich hängt es auch vom jeweiligen Charakter ab, mit wie vielen Sternchen man die Existenz von Bullshit-Jobs bewertet.

David Graeber, der anarchistische Prof, der noch fest daran glaubt, dass in den Menschen ungeheuer viel steckt, das beim sinnlosen Aktenschubsen und Herumsitzen in Meetings verloren geht und unterdrückt wird, hasst sie selbstverständlich. Realisten dagegen, die im Verlauf ihres Lebens nicht nur den Menschen im Allgemeinen, sondern die Menschen im Besonderen kennengelernt haben, könnten sich über sie freuen.

Es ist fantastisch, dass es so viele nutzlose Jobs gibt, durch die die Welt nicht verändert wird, deren Ergebnisse niemand braucht, die total überflüssig sind und über die man nicht einmal besoffen reden würde, weil es nun einmal nichts darüber zu reden gibt, wenn man jeden Tag im Büro sitzt und, beispielsweise, App-Nutzungsverträge-Updates formuliert oder Kästchen auf Inventurformularen ankreuzt, die sich nie jemand ansehen wird. Es müsste viel mehr solcher Jobs geben. Sie halten die Menschen davon ab, die Welt und sich selbst ernst zu nehmen, man weiß ja, dass man lieber in Deckung geht, sobald das geschieht.

Die Diagnose Graebers lässt sich nicht beanstanden. Selbstverständlich gibt es jede Menge abseitiger Jobs, die nichts anderes sind als die Verhöhnung menschlicher Intelligenz und all der Träume, die man hatte, als man sich noch überlegen durfte, was man einmal werden wolle, sobald man endlich groß sei.

Lauter schöne Bullshit-Jobs

Graeber hat viele schöne Beispiele zusammengetragen: Rezeptionistinnen in Literaturverlagen, in denen täglich höchstens ein Anrufer etwas will; Manager auf der mittleren Führungsebene, die Teams koordinieren sollen, die keinerlei Koordination brauchen; persönliche Assistenten, die dem Chef darüber berichten, was in den E-Mails steht, die er selbst nicht liest; Verwaltungsangestellte, die für jeden Vorgang im Laden Protokolle anzufertigen haben, die niemand je lesen wird; eine „Portfolio-Managerin“, die von sich selbst sagt, dass sie keinerlei Ahnung hat, was das sein soll und was von ihr erwartet wird; junge Menschen mit erstklassiger Ausbildung, denen aufgetragen wird, Daten aus digitalen Tabellen händisch in Papierformulare zu übertragen (man könnte sie auch ausdrucken, aber aus irgendwelchen Gründen darf man es nicht), Anwälte für Geschäftsrecht – die Liste solcher Berufe ist schier endlos.

Viele der Menschen, die in ihnen gelandet sind, werden erstaunlich gut bezahlt – für totalen Schwachsinn, wie sie selbst wissen und wie sie bereitwillig eingestehen.

Warum liebt der Kapitalismus das?

Das Verrückteste dabei ist für Graeber, dass ausgerechnet der Kapitalismus immer mehr Menschen in Bullshit-Jobs steckt und immer mehr solcher Jobs erfindet. Es handelt sich ja nicht um staatliche Bürokratien und sozialistische Planwirtschaften, die Leute sinnlose Arbeit verrichten lassen, damit sie von der Straße sind oder sich bei den nächsten Wahlen mit ihren Stimmen revanchieren.

Sondern Unternehmen, die pingeliges Controlling betreiben, jedes Mal zu zetern beginnen, wenn jemand eine zehnminütige Verkürzung der Wochenarbeitszeit vorschlägt, und keinerlei Hemmungen haben, ein paar Tausend Stellen abzubauen, sobald sich herausstellt, dass man in der Konkurrenz mit den Chinesen einfach nicht mehr mithalten kann – und zwar Stellen, bei denen tatsächlich etwas produziert wird. Und dennoch schaffen sie Arbeitsplätze, die keinen erkennbaren und Nutzen haben, keinen Profit abwerfen, mit Produktivität nicht das Geringste zu tun haben. Warum um alles in der Welt tun die das?

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Graebers Antworten haben viel mit seiner Aversion gegen den Kapitalismus und viel mit seiner altmodisch humanistischen Art zu tun, Menschen nicht nur zu mögen, sondern ihnen auch viel Gutes zuzutrauen. Er geht davon aus, dass der Kapitalismus so etwas wie ein Erziehungsprogramm braucht, das seinen Untertanen klarmacht, dass sie sich besser mal sputen und mit allem klarkommen sollten. Bullshit-Jobs eignen sich prächtig dafür.

Wenn man im Wissen, wie total sinnlos, überflüssig und widervernünftig die eigene Arbeit ist, trotzdem jeden Morgen antritt, wird einem irgendwann die Idee abhandenkommen, dass die Welt auch anders organisiert werden könnte. Solange man in Graebers Buch versunken bleibt, nickt man ihm immer wieder zu; er trägt seine Argumente nicht nur überzeugend und nachvollziehbar, sondern auch recht unterhaltsam vor.

Allerdings fallen einem dann wieder die real existierenden Menschen jenseits seines Buches ein, und sie sind bei Weitem nicht so amüsant, klug, unterhaltsam und kurzweilig wie Graeber. Einer wie er würde gewiss ein schöneres Leben führen und der Welt mehr bieten können, gäbe es nicht den stetig anwachsenden Bullshit-Anteil in seinem Job als Uniprofessor (er erzählt beispielsweise, dass er Tätigkeitsberichte schreiben muss, in denen er auch Auskunft darüber zu geben hat, wie viel Zeit er mit der Abfassung sinnloser Berichte vergeuden muss). Aber gilt das denn für alle? Wohl eher nicht.

Bei den meisten Menschen, die sich in Bullshit-Jobs aufreiben, will man sich eher nicht fragen müssen, wie sie wohl wären und was sie wohl täten, wenn sie nicht damit beschäftigt wären, irgendeinem Meeting vorzusitzen, Akten zu schubsen oder so zu tun, als würden sie Teams koordinieren. Wenn sie alle zum Beispiel in Bands spielen oder Literatur verfassen würden (zwei von Graeber genannte Alternativen zu Bullshit-Jobs) – es wäre der reinste Horror. Eine Welt, in der Menschen die Gelegenheit fänden, sich selbst zu finden und darüber ausführlich Auskunft zu geben, permanent über die vernünftige Einrichtung der Gesellschaft nachzudenken und „Sinn“ zu produzieren, wäre nicht nur unangenehm stressig, sondern wahrscheinlich auch lebensgefährlich, wie einem jeder kurze Blick in die Geschichte sagt.

Schlechter Job, guter Sex?

Man könnte sich auch fragen, mit wem man lieber Sex haben würde – mit einem Menschen, der total engagiert über seinen sinnvollen Beruf redet, wenn er denn nach Hause kommt, oder mit jemandem, der seine Arbeit im Office lässt und kein Wort über sie verliert, weil das ohnehin nur peinlich wäre.

Es klingt vermutlich ein wenig zynisch, aber Bullshit-Jobs sind ein Segen. Sie halten die Leute davon ab, ständig ihren Partnern und Kindern zu nahe zu kommen und mit ihren Gefühlen zu bedrängen. Sie entheben sie der Verlegenheit, sich etwas einfallen lassen zu müssen, um die Tage rumzukriegen. Sie richten keinen Schaden an. Und die Frau und der Mann, die in Bullshit-Jobs landen, haben, ohne sich verausgaben zu müssen, viel Zeit, den Stoizismus zu praktizieren, die einzige Philosophie, die etwas taugt. Auch das große Ganze, die Gesellschaft, profitiert von den Bullshit-Jobs: Wer mit Bullshit beschäftigt wird, kommt nicht dazu, wirklich grobe Scheiße zu bauen.

Das ist eine Win-win-Situation. Was daran sollte man ändern wollen? Das bisschen Lebenssinn, das man benötigt, um sich nicht wie eine geistlose Amöbe zu fühlen, kann man sich ja mühelos auf dem Firmenrechner herunterladen. Es schaut ja sowieso niemand nach, was man während der Arbeitszeit wirklich getrieben hat, statt Berichte über die Meetings zu schreiben, bei denen niemand etwas anderes als Bullshit von sich gegeben hat.

🔴 David Graeber: Bullshit-Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Aus dem Englischen von Sebastian Vogel. Klett-Cotta, 466 S., 26 €.

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ich denke, dass viel akademischer gehirnschmalz aufgewendet wird und wurde, um neuartige vermarktungslücken zu kreieren von "systemen" und "gebilden", die eigentlich "bullshit" sind und waren - und konkret von niemandem gebraucht werden und wurden, die aber der politik und den "geldgebern" offeriert werden, um "selbst" mit eigenem namen und mit eigener "marke" derartige "unverzichtbare instrumentarien" zu entwickeln und zu implantieren - und "allewelt" von der notwendigkeit und der verblüffenden effizienz diesder apparate zu überzeugen.

und zu all diesen unbedingt notwendigen "unverzichtbare instrumentarien" gab es ja noch das beiwerk der verschieden gestuften fortbildungen - bis hin zum "schwarzen dan", mit dem man dann selbst schon mal "ausbilden" darf - natürlich unter strenger  ständig kostspieliger anleitungs- und lehr-"supervision" - durch den "lehrbeauftragten" und dessen berufener troika  ...

in diesem "system" bzw. neuaufgelegten "programmen" - mit vielleicht so kunst-titeln wie z.b. "tuka - tagesbewältigung unter kreativ-aspekten" - oder ähnlich höherem blödsinn (wobei jede ähnlichkeit mit tatsächlich existierenden systemen reiner zufall wäre !!!)  - worin eigentlich die binsenwahrheiten einer persönlich sich gestalteten und ausgebildeten tagesstruktur  - jetzt aber planvoll mit ©-zertifizierten ablaufprogrammen eingenordet und festgelegt wird - in unverbrüchlichen zeitbudget-ausgestaltungs-systemen  - modifiziert und systematisiert ... - wenn sie verstehen was ich meine ...

und nun muss man mit hilfe von verlagen und agenturen und uni-wissenschafts-maklern versuchen, unternehmen zu finden, die sich einem solchen z.b. "tuka"-system unterwerfen, es lizensiert für mindestens eine üppige 6-stellige summe erwerben - und alle mitarbeiter in dem system mit natürlich langjährig ausgebildeten zertifiziertem "tuka"-coach oder -dozent  verpflichtend (!) schulen und ausbilden lassen...

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opa mit lieblingskuh
das ist dann vielleicht die "hohe schule" von akdemisch begründetem super-"bullshit", bei dem aber noch meinem opa  vor 80 jahren mit seiner lieblingskuh an der "leine" heutzutage die tränen in die augen steigen würden - und er würde denken: andere probleme habt ihr wohl nicht.

immerhin stand er mit rat und tat einem seiner 4 söhne zur seite, der vom wehrmachtsdienst freigestellt wurde, um mitzuhelfen, mit besonders leichten holzkonstruktionen beim bau des geheimen "super-lastenseglers" der reichsluftwaffe mitzuhelfen.

ähhh - aber war das nicht in der paradoxen rückschau eben solch ein "bull-shit" ... - diese lastensegler-"wunderwaffe" wurde nie gebaut - und auch nach dem krieg hat "messerschmidt" alle konstruktionen in dieser richtung eingestellt ...

"bullshit"-jobs regieren größtenteils den arbeits-alltag heute - und manche auch früher - und die kommunikation nach feierabend in den sozialen netzwerken facebook, instagram und twitter nicht minder - davon bin ich überzeugt - und deshalb gab es 2015 auch für viele menschen den ruf "etwas sinnvolles zu machen": die befeuerung für "refugees - welcome" - und vielleicht war das sogar auch die eigentliche vielleicht unbewusste motivation der bundeskanzlerin in ihrem meist recht tristen schleppenden "bullshit"-alltag.

und z.b. die neue interpretation des torwart-daseins unseres nationalkeepers neuer hat sicherlich etwas mit diesem "bullshit-job"-denksystem zu tun: "warum soll ich 85 minuten herumstehen, wenn ich zwischendurch auch ein paar libero-funktionen bis nah an die mittellinie wahrnehmen könnte ..."


Der Revoluzzer 
ist ein politisches Chanson von Erich Mühsam aus dem Jahr 1907 Ausschnitt


War einmal ein Revoluzzer,
Im Zivilstand Lampenputzer;
Ging im Revoluzzerschritt
Mit den Revoluzzern mit

Und er schrie: „Ich revolüzze!“
Und die Revoluzzermütze
Schob er auf das linke Ohr,
Kam sich höchst gefährlich vor

....

die gemeine vogelbeere

man nehme: 19 zutaten für gute lyrik - oder: "das versmaß, der jambus, bringt den wechsel von unbetonter und betonter silbe."


LYRIK

Dichten für Anfänger


Ein Gedicht kann auch derjenige schreiben, der kein Dichter ist. Eine Handreichung in 19 Paragrafen.


Von Matthias Heine

Mehr Krebs, weniger Heideröslein! Wer ein Gedicht schreiben will, sollte strukturiert vorgehen



Das Gedicht hält man in Deutschland für ein Ding, das aus dem möglichst unmittelbaren Innerlichkeitsausdruck geboren wird. Die technische Seite der Poesie gilt als Zwangswerk. Zumindest sehen Laien das so. Die Dichter wussten es schon immer besser.

Goethe hat im „Benvenuto Cellini“ über das Florenz der Medici geschrieben, wie sehr damals allein die allgemeine Kenntnis bestimmter Regeln auch Menschen, die keine Originalgenies waren, befähigte, akzeptable Poesie hervorzubringen: „Die beschränkte Form der Sonette, Terzinen und Stanzen war allen Köpfen der damaligen Zeit durch fleißiges Lesen früherer Meisterwerke und fortdauernden Gebrauch des Versprunks dergestalt eingeprägt, dass jeder, auch ohne Dichter zu sein, ein Gedicht hervorzubringen vermochte.“ Die folgende knappe Handreichung soll auch Ihnen helfen, ein Gedicht hervorzubringen, ohne ein Dichter zu sein.

1. Vergessen Sie ihre Stimmungen

Niemand interessiert, was Sie empfinden. Folgen sie Mallarmés Maxime, ein Gedicht werde nicht aus Gefühlen gemacht, sondern aus Wörtern. Glauben Sie nicht, Heinrich Heines „Der Tod, das ist die kühle Nacht, das Leben ist der schwüle Tag, es dunkelt schon, mich schläfert, der Tag hat mich müd’ gemacht“ sei so schön, weil es eine authentische Stimmung ungefiltert ausdrückt. Heine hat danach noch Jahrzehnte munter weitergelebt. Es ist so schön, weil Heine wusste, wie man Wörter, Reime und Betonungen setzte. Wie Gottfried Benn sagt: „Die Inhalte eines Gedichtes, sagen wir Trauer, panisches Gefühl, finale Strömungen, die hat ja jeder, aber Lyrik wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt autochthon macht, ihn trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht.“

2. Stellen Sie sich nicht ins Gedicht

Gottfried Benn hat es verboten. Mit Recht: Dass ein Ich im Text etwas andichtet. Das funktioniert meist so, dass die Natur, ein Wetterphänomen oder ein Gegenstand besungen wird und es dann gegen Ende des Gedichts eine Wendung zum Autor gibt, dessen innerlicher Eindruck nun benannt wird. Diese Gegenüberstellung von äußerer Staffage und innerem Bezug ist, sagt Benn, „heute eine primitive Art, seine lyrische Substanz zu dokumentieren“. Gehen Sie also beim „Alleinsein mit der Sprache“ (Hugo Friedrich) so weit, dass die Sprache schließlich selbst allein zu sein scheint.

3. Fassen Sie sich kurz

Es klingt banal, aber die Entscheidung zwischen kurzem und langem Gedicht ist die erste elementare Setzung jedes Dichters. Für Laien und Anfänger ist Kürze besser. Sie zwingt zur Konzentration und Verdichtung und schließt manches Klischee schon aus, weil gar kein Platz dafür ist.

4. Halten Sie sich an strenge Formen

Durch Bertolt Brecht sind freie Rhythmen in der deutschen Lyrik endgültig salonfähig geworden. Aber Brecht hatte, sogar wenn er freie Verse schrieb, immer die strengen Formen der Antike im Ohr. Bedenken Sie, dass er bis an sein Lebensende zum reinen Vergnügen gerne Horaz auf Lateinisch las! Wenn Ihnen bei „Nunc est bibendum“ nur Weinetiketten einfallen und nicht „Nunc pede libero“ und die alkäische Ode auf den Tod der Kleopatra, dann lassen sie die Finger von freien Versen. Brecht selbst gab in seinem Aufsatz „Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen“ zu: „Überhaupt ist diese freie Art, den Vers zu behandeln, wie zugegeben werden muss, eine große Verführung zur Formlosigkeit: die Güte der Rhythmisierung ist nicht einmal so weit garantiert wie bei regelmäßiger Rhythmisierung.“

5. Reimen Sie

Auch wenn Benn „eine gewisse Erschöpfung des Reims“ konstatierte, hielt er doch fest: „Der Reim ist auf jeden Fall ein Ordnungsprinzip und eine Kontrolle innerhalb eines Gedichts.“ Entscheidend ist der Klang, niemals das Schriftbild: Bord reimt sich auf Wort. Der Reim muss nicht immer echt sein, manchmal reicht schon eine Assonanz – so heißt es, wenn nur die Vokale gleich sind: fahren/tragen - über/Züge. Gegen die Erschöpfung hilft auch, wenn Sie auch mal ungewöhnliche Wörter miteinander reimen oder assonieren. Damit haben George und Benn ihre Reime erfrischt, als das Repertoire der Vorgängergenerationen abgenutzt war. Seitdem sind zig Hunderttausende neue Wörter dazugekommen. Nutzen Sie sie. Warum nicht mal Spagat auf Laktat reimen?

6. Wagen Sie Enjambements

Sie müssen nicht immer die letzten Wörter eines Satzes aufeinander reinem. Dadurch klingen Gedichte leicht wie Büttenreden. Sie können auch einmal Wörter, die mitten im Satz liegen, miteinander verbinden. Das nennt man Enjambement, und es sieht so aus wie beispielsweise im dritten und vierten Vers der ersten Strophe von Stefan Georges„Komm in den totgesagten park“

Komm in den totgesagten park und schau: 
Der schimmer ferner lächelnder gestade – 
Der reinen wolken unverhofftes blau
Erhellt die weiher und die bunten pfade.

7. Wählen Sie eine klassische Gedichtform

Im Deutschen haben sich das Sonett oder die Stanze bewährt. Das Sonett ist ein vierzehnzeiliges Gedicht aus zwei vierzeiligen und zwei dreizeiligen Strophen. In den beiden Vierzeilern reimen sich klassischerweise die erste und die vierte sowie die zweite und die dritte Zeile. In den Dreizeilern reimen sich die ersten beiden Zeilen und dann die jeweils dritte Zeile. Die deutsche Stanze besteht aus acht Versen, in denen sich der erste, dritte und fünfte Vers, der zweite vierte und sechste Vers sowie der siebte und achte Vers aufeinander reimen. Wenn Sie etliche Jahre lang Sonnette oder Stanzen gebaut haben, dürfen Sie sich dann auch mal an etwas anderes wagen.

8. Denken Sie über Metren nach

Die klassischen deutschen Versformen sind der fünfhebige oder der sechshebige Jambus, der sogenannte Alexandriner. Ein Jambus ist ein Versfuß, bei dem auf eine unbetonte eine betonte Silbe folgt. Im „Totgesagten park“-Gedicht steht dafür beispielhaft das Anfangswort erhellt. Aber eher selten ist der Jambus wie hier identisch mit einem Wort, normalerweise sind Wörter und Versfüße gegeneinander verschoben. So wie bei: Der schimmer ferner lächelnder gestade. Wenn es fünf Betonungen innerhalb eines Verses gibt, ist das ein fünfhebiger Jambus – wie bei George. Wenn das Versende mit einer Hebung zusammenfällt, nennt man das männliche Endung, wenn noch eine unbetonte Silbe folgt, nennt man das eine weibliche Endung. Beim zitierten George-Vers sind die Reime auf schau und blau männlich, die auf gestade und pfade weiblich.

9. Betonen Sie auch gegen das Metrum

Man nennt das schwebende Betonung. Wenn metrische und natürliche Betonung zusammenfallen, wirkt das rasch ermüdend, vor allem wenn es im an sich schon sehr regelmäßigen jambischen Metrum geschieht. Brecht schreibt: „Sehr regelmäßige Rhythmen hatten auf mich eine mir unangenehme einlullende einschläfernde Wirkung, wie sehr regelmäßig wiederkehrende Geräusche (Tropfen aufs Dach, Surren von Motoren).“ Füllen sie auch mal unbetonte Silben auf, wie es George gleich am Anfang mit dem Komm tut, oder belegen sie metrisch betonte Silben mit natürlich unbetonten Silben: Der Schimmer ferner lächelndér Gestade.

10. Tun Sie mal das Gegenteil

Sie können genau das, wovon Ihnen eben abgeraten wurde, für Effekte nutzen. Dann entsteht im besten Fall ein düsterer, etwas hypnotischer Effekt. Sogar Brecht spricht von einer „Art Trance, von der man sich vorstellen konnte, dass sie einmal hatte erregend wirken könnte“. Das tat sie noch bei Georg Heym, der so den typischen Sound seiner Gedichte schuf. In „Die Stadt“ variiert er noch den Auftakt gegenmetrisch, dann entsteht der gewünschte Singsang: 
Sehr weit ist diese Nacht. Und Wolkenschein
Zerreißet vor des Mondes Untergang.
Und tausend Fenster stehn die Nacht entlang 
Und blinzeln mit den Lidern, rot und klein.
Wie Aderwerk gehn Straßen durch die Stadt,
Unzählig Menschen schwemmen aus und ein.
Und ewig stumpfer Ton von stumpfem Sein
Eintönig kommt heraus in Stille matt.

11. Wagen Sie auch Daktylen

Der Daktylus ist im Deutschen ein Versfuß, bei dem auf eine betonte Silbe zwei unbetonte folgen. Im Grunde ein Dreivierteltakt. Durch ihn entsteht im Gedicht immer etwas tänzerisch Schwingendes, so wie in Goethes „Lied der Parzen“ aus dem „Iphigenie-Drama (wo den Daktylen, wie meistens, unbetonte Auftaktsilben vorangestellt sind): 
Es fürchte die Götter
Das Menschengeschlecht!
Sie halten die Herrschaft
In ewigen Händen,
Und können sie brauchen,
Wie’s ihnen gefällt.

12. Vorsicht bei Trochäen

Der Trochäus ist das Gegenteil eines Jambus. Hier folgt auf eine betonte eine unbetonte Silbe. Goethe nutzte ihn gern, auch Heine im Epos „Atta Troll“: 
Traum der Sommernacht! Phantastisch
Zwecklos ist mein Lied. Ja, zwecklos
Wie die Liebe, wie das Leben,
Wie der Schöpfer samt der Schöpfung! 

Aber für Laien ist er riskant. In einem vom Schriftstellerverband der DDR herausgegebenen Lehrbuch für Dichter schreibt Ernst Stein: „Man darf vielleicht sagen, dass der Jambus besser trägt, dass er schmiegsamer gleitet als der Trochäus. Der beginnt schwerer, er ist offensichtlich für eine fallende Bewegung geeignet. Bei langsamem Sprechen wirkt er ernster als der Jambus; bei schnellem Tempo bekommt er etwas Laufendes, Vor-Läufiges. Er ist dann fahler als der Jambus.“

13. Bloß kein „wie“

Wenn es im Gedicht zur Wirklichkeitszertrümmerung und Zusammenhangsdurchstoßung kommen soll, dann darf nicht nur verglichen werden, sondern die Phänomene müssen als identisch behauptet werden. Nicht Wie - ein Stern in einer Sommernacht! Wieder Benn: „Dies Wie ist immer ein Bruch in der Vision, es holt heran, es vergleicht, es ist keine primäre Setzung“.

14. Lassen Sie Ihre Metaphern modern wirken

Nicht mehr einfach Vergleich, schlimmstenfalls mit Genitiv-Konstruktionen: „Der Sonne glühender Ball“ – das ging vielleicht im späten 18. Jahrhundert, heute nicht mehr. Heute besteht die Kunst darin, etwas Verblüffendes und dennoch Einleuchtendes zu finden. Das stellen sie Sie zueinander und lassen so bestenfalls „das absolut Ungleiche identisch werden“ (Hugo Friedrich) wie Else Lasker-Schüler: Auf deinen Wangen liegen goldne Tauben.

15. Vorsicht vor Farben

Wer in Farbadjektiven wie pupurn, opalen, azurn schwelgt, will Sinnlichkeit evozieren, „übersieht aber, dass diese Farben ja reine Wortklischees sind, sind die besser beim Optiker und Augenarzt ihr Unterkommen finden“ (Benn).

16. Besingen Sie Hässliches

Niemand dichtet heute mehr über Heideröslein und Feinsliebchen. Seit Baudelaire in seinen „Blumen des Bösen“ das Ungeziefer der Bettler schon durch den vierten Vers des Widmungsgedichts krabblen ließ, singt man über Krebs, Fäulnis, Prostitution, Schrottimmobilien, Autobahnen, Blutgefäße, Hautkrankheiten, Algen. Erst wenn Sie es darin zur Meisterschaft gebracht haben, können Sie sich wieder an etwas Schönes trauen – wie Benn, der anfing mit Gedichten über Krebsbaracken und sich am Ende an Rosen und Schwalben wagte.

17. Wählen Sie nüchterne Wörter

Meiden Sie, was Benn den „seraphischen Ton“ genannt, also alle semantischen Harfenklänge: rauschende Brunnen, schöne Nacht, Grillenzirpen, Gebetet. Stattdessen Wörter wie Eiswürfel. Gerne Fachwortschatz aus Geologie und Medizin, Jura, Viehzucht, Meteorologie.

18. Gedichte auswendig Lernen

Injizieren Sie sich den Klang der Meister. Sprechen Sie sich das auswendig Gelernte laut vor, wann immer es geht. Hundertmal Goethes „Willkommen und Abschied“ ist wie hundert Besuche im Lyriker-Fitnesstudio. Also los: 
Mir schlug das Herz; geschwind zu Pferde,
Und fort, wild, wie ein Held zur Schlacht!
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hieng die Nacht;
Schon stund im Nebelkleid die Eiche,
Ein aufgethürmter Riese, da,
Wo Finsterniß aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

19. Seien Sie sehr jung. Oder sehr alt

Alle große Dichter haben von den sechs bis acht wirklich vollendeten Gedichten, die sie geschaffen haben, überproportional viele als ganz junge und als sehr alte Menschen hervorgebracht. Am frappierendsten ist es bei Brecht: Ganz am Anfang „Erinnerung an die Marie A.“ und der „Choral vom großen Baal“, am Ende die„Buckower Elegien“.

Wir leben in chaotischen Zeiten, in denen fast nichts mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Unsere Sommerserie schafft Abhilfe – und liefert Anleitungen für elementare Kulturtechniken

DIE WELT-edition© Axel Springer SE. Alle Rechte vorbehalten

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Aus den Feuilletons

Poet werden in 19 Schritten

Von Ulrike Timm | deutschlandfunk

"Die Welt" verspricht mit einer "Handreichung in 19 Paragraphen" aus jedem einen Dichter machen zu können, der zumindest "akzeptable Poesie" hervorbringt. Ein paar Regeln muss man durchaus lernen, es ist aber auch hilfreich, sehr jung oder sehr alt zu sein.

Die WELT will uns zu ganz ordentlichen Dichtern ausbilden. Ja. Matthias Heine ist sich sicher - "die allgemeine Kenntnis bestimmter Regeln" befähige auch "Menschen, die keine Originalgenies" seien, "akzeptable Poesie hervorzubringen". Das hat er von Goethe, der von akzeptabler Poesie ja einiges verstand. Also nur zu - "Eine Handreichung in 19 Paragraphen".

Anleitung für elementare Kulturtechniken

Punkt 1: "Vergessen Sie Ihre Stimmungen", denn Gedichte sind "nicht aus Gefühlen gemacht, sondern aus Worten". Und um das noch zu verstärken, zitiert die WELT herzzerreißende Zeilen von Heine, die sensibelst den Tod beschwören - "Heine hat danach noch Jahrzehnte munter weiter gelebt".

Weitere Rezeptzutaten: "Reimen Sie"  - wer hätte das gedacht! - oder "Wählen Sie eine klassische Gedichtform - Im Deutschen haben sich das Sonett und die Stanze bewährt. Dadurch klingen Gedichte leicht wie Büttenreden". Für die, die Inhalt und Worte ihrer Poesie noch suchen, hat die WELT die Lautgestalt eines Sonetts schon mal sorgfältig aufgemalt, "das Versmaß, der Jambus, bringt den Wechsel von unbetonter und betonter Silbe." Den Rhythmus haben Sie also schon mal, da sollte der Rest doch ein Klacks sein.

Paragraph 19 allerdings wird viele Neudichter wieder herauskatapultieren, "Seien Sie sehr jung. Oder sehr alt!"denn: "Alle großen Dichter haben von den sechs bis acht wirklich vollendeten Gedichten, die sie geschaffen haben, überproportional viele als ganz junge und als sehr alte Menschen hervorgebracht." Fies eigentlich, das erst an neunzehnter und letzter Stelle zu bringen, denn der klassische WELT-Leser befindet sich meist irgendwo im leicht gehobenen Mittelalter und kann jetzt einpacken.

Die ganzseitige Anleitung"Mehr Krebs, weniger Heideröslein!" bildet den sogenannten Kultur-Knigge in der WELT, die sich in einer großen Serie um "Anleitungen für elementare Kulturtechniken" bemüht, diesmal unter heftiger Zuhilfename der Herren Benn, Brecht und Goethe.

Wieviel Denken tut dem Schreiben gut?

Wer jetzt hofft oder fürchtet, dass die Kulturpresseschau….. nein, wir bleiben schnöde Prosa.

"Gute Pimmelwitze gehen immer"– rumms. Das steht in der TAZ und beschwört auch Literatur. Sven Regener las beim Sommerfest des Literarischen Colloquiums Berlin und animierte den Festbesucher Jan Jekal zu diesem knappen Fazit. Bei dieser Veranstaltung ging es u.a. darum, wieviel Denken dem Schreiben gut tut.

Und auch in der FAZ betritt die Literatur Seitenwege. Sandra Kegel hat aufgespießt, wie sich die Verlagsgruppe Holtzbrinck einen Lesekreis vorstellt. Der funktioniert anscheinend vor allem über geselliges Trinken. "Probieren Sie es lieber mit einem leichten Wein zum Buch, der auch zu kleinen Snacks überzeugt. Setzen Sie auf frische Weißweine, die voll im Geschmack sind , wie ein Pinot Grigio oder ein Grüner Veltliner."

Nur schlechte Künstler wollen die totale Illusion

Falls Sie nun betrübt feststellen, dass auch dieses Doping bei Ihnen zum beschwipsten Lesen, aber nicht zum selbstdichterischen Durchbruch führt, dann tröstet Sie womöglich die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Seite weiter. Die widmet sich dem Schönen Schein. Eine Ausstellung in der Münchner Kunsthalle geht der Frage nach, warum wir uns von Künstlern so gerne täuschen lassen. Stefan Trinks berichtet von der "glänzenden Schmeißfliege, die jedermann von den Gemälden verjagen will, genau wie man die vielen gemalten Zeuxis-Trauben und Parrhasios-Vorhänge in der Ausstellung unbedingt berühren will."Aber auch von den Löchern, in die man wirklich fällt, weil man sie für gemalt hält – die waren eben leider echt.

"Eine Formel lässt sich der großen Münchner Illusions-Schau wohl abgewinnen: Nur schlechte Künstler wollen die totale Illusion und Immersion; echte Künstler beharren auf einer Reflexion des Bildseins im Bild!" Da trifft sich der Tenor der offenbar eindrucksvollen Schau "Lust der Täuschung" mit den Grenzen des ordentlichen Gebrauchsdichtertums, zu dem uns die WELT animieren will...

Wie hieß da Paragraph 3?"Fassen Sie sich kurz" Ok.

SchlussAusVorbei.

deutschlandfunk kultur

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tja - und diesem "bullshit"-kurs 👻 kann ich ja nur noch eine eigene wortaneinanderreihung
aus den tiefen meines "archivs" hinzufügen - in der ich alle oben hingeworfenen "gesetze" einfach übertreten habe - 
oder vielleicht auch nicht
keine ahnung
juckt mich aber auch nicht ...


Image may be NSFW.
Clik here to view.
S!|art: da könnt ich namen nennen


da könnt ich namen nennen

ich versteh nicht so ganz
wo ihr bleibt
wenn ja - wenn -

da sind gerüche

unter den fingerkuppen
frisch und tiefgründig

letztlich unter den 

fingernägeln: entfaltend
vorüberhuschend

da liegt die programmzeitung

offen: ... da könnte ich
namen nennen ....

da stauch ich die lider

über die viel zu trocknen pupillen
da sternen die nicht-

sess-haften im innehalten

vorübergehend 
abtauchen - schnauze haltend - 

hin und wieder sollt man

sollt man - zerknittern
aber niemand - hält sich dran
fällt  ...

sinedi - 15.12.2014



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